Süddeutsche Zeitung

Güterverkehr im Vergleich:Legt endlich los - wir warten!

Weil der Güterverkehr zunimmt, haben sich Deutschland und die Schweiz zum Ausbau des Schienennetzes verpflichtet. Doch nur ein Land liegt im Zeitplan, das andere hinkt weit hinterher.

Von Steve Przybilla

Sicherheitsschleusen, Codekarten, Zahlenschlösser: Die Kommandozentrale des längsten Eisenbahntunnels der Welt gleicht einer Festung. Die Vorsichtsmaßnahmen sind berechtigt, denn ohne den Hightech-Betonklotz, der in Pollegio am Rande der A2 in den Himmel ragt, würde der Schweizer Bahnverkehr zusammenbrechen. Der Kontrollraum überwacht nicht nur den neuen Gotthard-Basistunnel, sondern einen 150 Kilometer langen Korridor, quasi die Flugsicherung fürs Schienensystem. Ein Dutzend Mitarbeiter sitzen vor ihren Monitoren, um bunte Punkte vor schwarzem Hintergrund zu beobachten. "+5" steht an einem Punkt: ein Zug mit fünf Minuten Verspätung. "Für die Schweiz ist das schon viel", sagt eine Mitarbeiterin und lacht.

Die Schweizer haben derzeit allen Grund zur Freunde, denn der Ausbau ihres Schienennetzes kommt gut voran. Vor 16 Jahren begannen die ersten Arbeiten am Gotthard-Basistunnel. Seit Oktober ist die 57 Kilometer lange Röhre nun im Probebetrieb. Ingenieure prüfen, ob Wärmebildkameras funktionieren, die im Notfall einen Tunnelbrand entdecken sollen. Züge rasen mit bis zu 275 km/h durch den Untergrund, während der Bordfunk getestet wird. Fluchttüren, Löschanlagen, Steuerungscomputer - alles muss bis zur Eröffnung im Juni 2016 reibungslos ineinandergreifen.

Viele Projekte, alle im Zeitplan

Renzo Simoni, Direktor des für den Tunnelbau zuständigen Konsortiums AlpTransit, spricht von einer "generalstabsmäßigen Testphase". Doch nicht nur beim Gotthard liegen die Eidgenossen im Zeitplan. Das Gesamtprojekt, die sogenannte Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat), umfasst den Lötschbergtunnel (bereits fertiggestellt) und den Ceneri-Tunnel (Eröffnung 2020). Umgerechnet rund 21,2 Milliarden Euro kostet das komplette Bauvorhaben - Geld, das in den Augen der Planer gut investiert ist. Denn der Güterverkehr durch das Alpenland nimmt weiter rasant zu. Laut Bundesamt für Verkehr werden schon heute jedes Jahr 26 Millionen Tonnen Fracht per Zug durch die Schweiz befördert, davon 80 Prozent als reiner Transit.

Die Strecke Rotterdam - Genua gilt als wichtigster Güterkorridor Europas, was bedeutet, dass nicht nur die Schweiz ihre Kapazitäten erhöhen muss, sondern auch die Bundesrepublik. Schon 1996 haben beide Länder daher einen Staatsvertrag unterzeichnet, in dem sich Deutschland verpflichtet, den Abschnitt Karlsruhe - Basel viergleisig auszubauen. Auf der 182 Kilometer langen Strecke, genannt "Rheintalbahn", verkehren nach Angaben des Bundesverkehrsministeriums derzeit 225 Güterzüge am Tag. In zehn Jahren werden es Prognosen zufolge schon 325 sein. Die Zeit drängt also.

Deutschland hinkt hinterher

Doch Papier ist geduldig. Während in der Schweiz das Neat-Projekt dem Ende zustrebt, ist in Deutschland an vielen Stellen noch nicht einmal ein Spatenstich erfolgt. Von der viel beschworenen Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene ist wenig zu sehen. Stattdessen kündigte Bahnchef Rüdiger Grube unlängst an, der Gütersparte ein Sparprogramm verpassen zu wollen. Dass die Bundesrepublik trotz der Verzögerungen nicht vertragsbrüchig wird, hat sie dem Vertrag selbst zu verdanken. Eine konkrete Frist für den Gleisausbau wird darin nämlich nicht genannt.

Doch warum funktioniert ein Großprojekt wie die Neat in der Schweiz so gut, während in Deutschland die Streitereien kein Ende nehmen? Renzo Simoni überlegt lange, bevor er antwortet. Er will die Nachbarn nicht verprellen, aber auch klarstellen, dass die Deutschen ihren Teil der Vereinbarung einhalten sollen. Also sagt er: "Auch in der Schweiz gab es Verzögerungen, das sollte man nicht vergessen. Unser Vorteil liegt wahrscheinlich in der politischen Legitimation." Gemeint sind zwei Volksabstimmungen, in denen die Bevölkerung das Projekt und dessen Finanzierung bejahte. Vorausgegangen waren auch in der Schweiz jahrelange Debatten um die Linienführung und eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe: Schwere Züge müssen für die Strecken mehr bezahlen.

In Deutschland zeigt sich ein anderes Bild. Zwar kochte beim Thema Rheintalbahn die Volksseele nicht annähernd so hoch wie bei Stuttgart 21. Doch bei diversen Vor-Ort-Terminen, zu denen Bahnvertreter erschienen, ging es durchaus ruppig zu. Da parkten Traktoren vor den Versammlungssälen, auf denen klare Botschaften zu lesen waren ("Bahn muss in den Boden, sonst gibt's auf die Pfoten"). Immerhin sind einzelne Abschnitte der Gesamtstrecke inzwischen fertig, zum Beispiel der 9,4 Kilometer lange Katzenbergtunnel. Außerdem hat sich der Projektbeirat - ein Gremium aus Politikern, Bahnvertretern und Bürgerinitiativen - diesen Sommer auf eine Trassenführung geeinigt. Doch schon kurz nach dem Beschluss protestierten die ersten Gemeinden, die ihre Belange nicht genug gewürdigt sahen.

Selbst die Anwohner, die jahrelang für einen besseren Lärmschutz gekämpft haben, verlieren mit solchen Kleinst-Fraktionen allmählich die Geduld. "Demokratie lebt auch von Mehrheiten", sagt Roland Diehl, Sprecher der IG Bohr, in der sich neun Bürgerinitiativen zusammengeschlossen haben. Mit dem jetzigen Kompromiss könnten 95 Prozent der Beteiligten leben. Ob die restlichen fünf Prozent die Entscheidung akzeptieren, ist dennoch ungewiss. So kämpft etwa Kappel-Grafenhausen, eine kleine Gemeinde zwischen Offenburg und Freiburg, weiter für eine Trasse, die nicht an der A5 entlangläuft, sondern neben den bestehenden Gleisen. Bürgermeister Jochen Paleit schließt eine Klage nicht aus.

Viele Unwägbarkeiten

Die Bahn sieht sich indessen in der Opferrolle. "Durch die Entscheidung des Projektbeirats müssen wir völlig neu planen", sagt der Sprecher des Großprojekts, Michael Breßmer. Dass sich die Region derart sträube, habe man im Vorfeld eben nicht gedacht. Die Bahn geht von Mehrkosten von 1,2 Milliarden Euro aus, die durch "Sonderwünsche" wie zusätzliche Tunnel oder Umfahrungen entstünden. IG-Bohr-Sprecher Diehl kontert: "Hätte man von Anfang an die Anliegen der Bürger mit einbezogen, müsste man heute nicht über Mehrkosten sprechen."

Nach offiziellen Prognosen könnte die Rheintalbahn bis 2030 viergleisig ausgebaut sein. Der Bund und das Land Baden-Württemberg feierten den ausgehandelten Kompromiss als "historische Entscheidung". Hinter vorgehaltener Hand glaubt allerdings niemand daran, dass der Termin eingehalten werden kann. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten: mögliche Klagen, Last-Minute-Änderungswünsche, politische Verzögerungen. Auch der Bundestag muss den Mehrkosten noch zustimmen. Dauert es noch länger, könnten weitere Kosten hinzukommen, weil bestimmte EU-Mittel zeitlich befristet sind.

Klare Botschaft, freundlich verpackt

Sind also Wutbürger schuld an allem? Politiker? Oder doch die Bahn, die den Protest zu lange ignoriert und die Eskalation damit erst heraufbeschworen hat? Womöglich spielt noch ein anderer Faktor eine entscheidende Rolle: Geld. So ist die Schweiz von Anfang an den Weg des geringsten Widerstands gegangen, indem fast die gesamte Neat-Strecke untertunnelt wurde. Allein der Gotthard-Basistunnel hat mehr als elf Milliarden Euro gekostet. Zum Vergleich: Die mehr als dreimal so lange Strecke zwischen Karlsruhe und Basel soll am Ende rund sieben Milliarden Euro kosten.

Olivia Ebinger, Sprecherin des Schweizer Bundesamts für Verkehr (BAV), äußert Verständnis für die Bürgerproteste: "In Deutschland haben Anwohner dieselben demokratischen Rechte wie in der Schweiz - und das ist auch gut so." Außerdem werde der Güterverkehr erst allmählich ansteigen. Trotzdem setze man nun darauf, "dass Deutschland die Kapazitäten nach und nach ausbaut".

Man könnte die Botschaft, die sich hinter der Schweizer Höflichkeit verbirgt, auch anders formulieren: Legt endlich los! Wir warten.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2015/harl
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