Süddeutsche Zeitung

Gravelbikes im Test:Zwei Räder für alles

Gravelbikes haben sich vom Nischenprodukt zum Trend entwickelt. Die Modelle von Cannondale und BMC zeigen, wie vielfältig diese Räder sind. Doch es gibt auch Unterschiede.

Von Sebastian Herrmann

Es kann befreiend wirken, sich nicht festzulegen. Im Leben gilt das sowieso, aber auf dem Fahrrad trifft das auch zu, es existieren ja so viele köstliche Möglichkeiten: Soll die Tour über Straßen verlaufen oder auf Wegen durch den Wald? Wollen wir richtig Tempo machen oder lieber auf schmalen Pfaden an der Fahrtechnik feilen? Nehmen wir das Rennrad oder das Mountainbike? Die schönste Antwortet darauf lautet: Einmal alles, bitte! Das geht natürlich nicht, schon klar.

Aber das Gravelbike ist ein Kompromiss auf zwei Rädern, der die Universalerfüllung dieser Wünsche wenigstens greifbar macht. Seit etwa fünf Jahren bieten Hersteller diese Räder mit Rennlenker und breiten Reifen nun an, und wahrscheinlich darf man mittlerweile von einem erfolgreichen Trend sprechen. In den meisten Läden stehen Modelle herum, auf Radwegen kommen sie einem immer häufiger entgegen, und die Zahl der Jedermann-Rennen, Marathons und sonstigen organisierten Touren auf dem Gravelbike ist zuletzt auch regelrecht explodiert.

Das gilt auch für die Vielfalt der Modelle, die unter der Bezeichnung angeboten werden. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Ingenieure und Entwickler auch nicht festlegen wollen. Das müssen sie auch gar nicht, denn das Gravelbike unterliegt, anders als zum Beispiel Rennräder oder die klassischen Wettkampf-Crossräder, keinem technischen Reglement des Welt-Radsport-Verbandes UCI. Ingenieure dürfen sich in dieser Kategorie also austoben und fröhlich experimentieren - Reifenbreiten, Radgrößen, Lenkerformen, Dämpfungssysteme, Aufnahmen für Transporttaschen und so weiter. Gelegentlich fragt man sich dann, ob da ein Mountainbike in ein Rennrad eingekreuzt wurde oder ein Rennrad ein paar Spuren Mountainbike-Erbgut abbekommen hat.

Am Anfang ein leicht überraschendes Fahrgefühl

An zwei aktuellen Modellen lässt sich die gegenwärtige technische Ausdifferenzierung von Gravelbikes beobachten. Beide Räder fallen mit neuen Dämpfungssystemen auf: das "Urs" des Schweizer Herstellers BMC und das "Topstone" der US-amerikanischen Marke Cannondale. Beide Konzepte, das in aller Kürze vorab, verleihen den Rädern ein verblüffend weiches und trotzdem kontrolliertes Fahrgefühl.

Das Dämpfungssystem am Cannondale nennt sich Kingpin und nutzt im Wesentlichen die Flexibilität des Materials Karbon. Das Sitzrohr, das vom Sattel zum Tretlager verläuft, funktioniert dabei wie eine große Blattfeder. Das ist möglich, weil die Sitzstreben über zwei Kugellagern mit dem Sitzrohr verbunden sind und wie ein Gelenk wirken. Auf Höhe des Sattels ermöglicht dies einen Federweg von etwa 30 Millimetern. Theoretisch lasse das Material einen noch längeren Federweg zu, sagt der entwickelnde Ingenieur Darius Shekari von Cannondale. Aber vermittele dann einen Fahreindruck, der für viele Kunden noch zu ungewohnt sei.

75 Millionen Fahrräder

stehen in den Radkellern und Garagen in Deutschland - vom Stadtrad übers Mountain- sowie Gravelbike bis zum Rennrad und dem mit Elektromotor ausgestatteten Pedelec. Und die Zahl der Zweiräder wird stetig größer: Allein in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres wurden nach Angaben des Branchenverbands ZIV etwa 2,9 Millionen Fahrräder und Pedelecs verkauft - das war ein Zuwachs von 3,2 Prozent. Die Zahlen für das Gesamtjahr wird der ZIV voraussichtlich im März präsentieren.

Tatsächlich führt das weiche und für ein solches Rad deswegen noch leicht überraschende Fahrgefühl am Anfang zu einer kleinen Plattenparanoia: Auf dem Silvesterdreck und dem scharfen Rollsplitt in der Stadt war auf einer Testfahrt gleich zweimal der hintere Reifen platt. In der Folge tauchte dann mehrere Male kurz der Eindruck auf, der hintere Reifen verliere schon wieder Luft. Aber dann Entwarnung, stimmt ja gar nicht, das Gravelbike ist nur gut gefedert. Im Gelände verleiht dies dem Topstone neben Komfort spürbar mehr Kontrolle auf ruppigen Untergrund. Auf Asphalt fährt sich das Rad angenehm ruhig, wenn auch gelegentlich ein leichtes Wippen am Heck zu spüren ist.

Gravel-Rad mit Bandscheibe

Die Schweizer von BMC haben in ihrer Gravel-Interpretation "Urs" eine Art Bandscheibe konstruiert, die für Dämpfung und Traktion am Hinterrad sorgen soll. Das Systems namens Micro Travel Technology (MTT) besteht aus einem schwarzen Elastomer-Element, das kurz vor dem Ansatz am Sitzrohr in den Sitzstreben eingebaut ist. Der elastische Kunststoff funktioniert eben ähnlich einer menschlichen Bandscheibe in der Wirbelsäule und er verformt sich bei Stößen.

Laut BMC resultieren daraus etwa zehn Millimeter Federweg. Urs fährt sich noch ein wenig weicher als das Topstone von Cannondale. Gewiss liegt das auch an den breiteren Reifen, die BMC auf den DT Swiss Laufradsatz montiert hat: Die WTB Resolute messen 42 Millimeter in der Breite. Auf dem Topstone sitzen 37 Millimeter breite WTB Riddler. Beide Varianten lassen sich mit geringem Luftdruck fahren, was wohl einen noch stärkeren Dämpfungseffekt ausübt als die beiden eigenes dafür konstruierten Systeme am Rahmen.

Allerdings, auch das sei gesagt, kann dies im Fall einer Reifenpanne recht lästig werden: Um niedrige Luftdrücke fahren zu können, muss ein Reifen fest in den Felgen sitzen. In der Praxis sieht das so aus, dass man ziemlich stramm aufpumpt, bis der Mantel überall in Position geflutscht ist und dann wieder Luft ablässt. Bei einer Panne unterwegs ist es aber fast unmöglich mit einer Mini-Pumpe oder einer kleinen Druckluftkartusche dazu ausreichend Druck in den Reifen zu bekommen. So hoppelt man dann auf unrundem Rad bis zur nächsten Standpumpe - und wenn die weit weg ist, dann ist das ziemlich nervig. So gesehen steckt sehr viel Mountainbike in manchen Gravelbikes, denn mit diesem Problem wurde man bisher eher auf dem Bergfahrrad konfrontiert, wo es seit längerem angesagt ist, mit verhältnismäßig geringem Luftdruck zu fahren.

Im Vergleich der Modelle von BMC und Cannondale, steckt im Urs etwas mehr Mountainbike als im Cannondale. Alleine die verbaute Schaltgruppe drängt diesen Eindruck auf: Das Rad verfügt in der Top-Version "One" über die elektronische Sram Red eTap AXS mit einem Einfach-Kettenblatt mit 38 Zähnen. Am Hinterrad sitzt eine Sram-Eagle-Kassette mit einer Übersetzungsbandbreite von 10 bis 50 Zähnen. Damit kann man auch auf einem Mountainbike unterwegs sein. Auf dem Gravelbike passen die Übersetzungen im Gelände wunderbar, auf Asphalt nutzt man fast nur die schwersten drei Gänge.

Im Topstone von Cannondale steckt im Vergleich etwas mehr Rennrad. Das Testmodell verfügt ebenfalls über eine drahtlose elektronische Schaltung, jedoch eine aus dem Rennradkomponentenschrank: Die Sram Force eTap AXS hat vorne ein Zweifachkettenblatt mit 46 und 33 Zähnen und eine Kassette mit zwölf Ritzeln mit einer Spannbreite von zehn bis 33 Zähnen. Für die Straße ist das die leicht passendere Übersetzung, wenn man zügig unterwegs sein möchte. So gesehen, ist das Urs One ein bisschen besser an das wilde Gelände und das Topstone etwas besser an gutmütigen Untergrund angepasst. Beide Rahmen wirken im Vergleich zu einem Rennrad wuchtig und fahren sich doch sportlich.

Das Urs hat einen Flare-Lenker, die unteren Bügel sind leicht nach außen gestellt. In der Theorie soll das etwas mehr Kontrolle bieten, in der Praxis ist das aber vor allem interessant, wenn man sich für lange Touren eine Tasche an den Lenker montieren will, weil dann dort mehr Platz ist. Beide Räder haben viele Aufnahmen, um dort Taschen, Flaschenhalter und andere Transportutensilien anzuschrauben. Das Urs kostet in der Topausstattung "One" 8999 Euro, in der Einsteigerversion "Four" 2999 Euro. Das Cannondale Topstone mit der Sram Force AXS soll 5499 Euro kosten.

Und, muss man sich nun auf ein Modell festlegen? Mit beiden lässt sich grandios über Stöcke, Steine, Waldwege, Straßen und Schotterpisten rollen oder rasen. Deshalb nur eine Festlegung an dieser Stelle: Hauptsache, Abenteuer auf dem Rad!

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Quelle:
SZ vom 15.02.2020/reek
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