Flugchaos in Europa:Unterwegs im Irgendwo

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Tausende Menschen sind momentan zum Stillhalten gezwungen und machen plötzlich andere, auch positive Erfahrungen. Gedanken zu unserer ausufernden Mobilitätslust.

Günther Fischer

"Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort" - die Verse des deutschen Barden Hannes Wader wirken heute ziemlich hellsichtig. Übers Wochende also schnell mal nach New York jetten? In England studieren und in dem Ferien immer wieder nach Hause fliegen? Dem Schnee entfliehen (sofern vorhanden) und über Weihnachten in die Karibik düsen? Noch vor kurzem war dies, wenn überhaupt, nur ein Geld-Problem.

Viele haben es vergessen, aber: Auch Stillstand kann modern sein. (Foto: Foto: dpa)

Das hat sich radikal geändert. Ein einziger Vulkanausbruch hat gereicht, um die Flugbewegungen in und über fast ganz Europa zum Erliegen zu bringen, zumal der isländische Vulkan weiter aktiv ist und Asche in den Himmel schleudert, Asche, die noch wochenlang - je nach Wetter - über den Himmel wabern wird. Und irgendwann auch nicht mehr nur über dem europäischen.

Diejenigen, die es eilig hatten oder so weit weg wollten, werden nun in fremden Ländern zur Ruhe gezwungen - in Hotels, in Flughafenhallen, die mitunter improvisierten Pfadfinderlager gleichen, in langen Schlangen an den Ticketschaltern für Zug und Bus. Alle Menschen, ob reich, ob arm, ob first, business oder economy, sehen sich plötzlich egalisiert.

Europa, so die weltweiten Schlagzeilen, werde vom Flugchaos erschüttert. Das mag für die Brennpunkte stimmen. Seltsam nur, dass von diesem Chaos in den Großstädten relativ wenig bis nichts zu spüren ist. Im Gegenteil: Eine gewisse Ruhe hat sich ausgebreitet, und seit am Himmel auch keine Kondensstreifen mehr zu sehen sind, wird einem erst bewusst, wieviele Jets sonst über unsere Köpfe hinweg brausen. Es ist stiller. Und das ist eine angenehme Erfahrung.

Stillstand an den Flughäfen
:Sitzen. Warten. Hoffen.

Ratlosigkeit weltweit: Auf den Airports wissen Tausende Menschen nicht, wie sie wieder nach Hause kommen sollen - die Lage auf den Flughäfen in Bildern.

In ein paar Tagen wird sich die Summe der ausgefallenen Flüge in Europa auf rund 80.000 summiert haben. Nach nur sechs Tagen Flugstillstand sind Bus und Bahn, auch die wenigen Fähren, die in Europa eingesetzt werden können, hoffnungslos an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt. Der Eurostar, der den Ärmelkanal unterquert und sonst zuverlässig unterhalb jeglicher Rentabilitätsgrenzen unterwegs, ist auf Wochen hinaus völlig ausgebucht.

Europas Mobilitätsquerelen haben die Euphorie des technisch Machbaren auf den Boden der Nachhaltigkeit geholt. Ein einziger Vulkan hat gereicht, um alle Geschwindigkeit zu nivellieren.

Dass der erzwungene Stopp vieler Aktivitäten so gewaltsam wirkt, hat auch mit den Gegebenheiten der Gegenwart zu tun: Nie zuvor waren Menschen mit solchen Geschwindigkeiten unterwegs, nie zuvor konnten so viele Menschen gleichzeitig miteinander kommunizieren, nie zuvor mussten Menschen so viele Dinge auf einmal tun, nie zuvor war auch die Wirtschaft so sehr vernetzt.

Das heißt natürlich auch: Es gibt keinen Weg zurück. Damit steht fest, dass wir unsere Mobilität in Zukunft anders steuern, vernetzen und organisieren müssen. Erste positive Ansätze sind ja schon länger zu verzeichnen - zum Beispiel bei Managern, die sich mittels Videokonferenzen austauschen und damit einige Dienstreisen überflüssig machen. Manche Menschen genießen einfach nur den Stillstand und erinnern sich an Zeiten, in denen es den autofreien Sonntag gab.

Andere wiederum entdecken eine lange nicht mehr benötigte Fertigkeit des Menschen neu: die Kunst des Improvisierens. Der Fall des Reisenden, der gerade mit einem Heißluftballon nach England fuhr, mag ein Extrem sein, dennoch gilt in diesen Tagen für viele: Wie komme ich weiter, wie weit komme ich überhaupt, wo werde ich schlafen? Und siehe da: Gemeinsam, mit der Hilfe anderer Menschen, kommt man dann doch ganz schön weit.

Aschewolke über Europa
:Widerspenstig und wunderschön

Der Eyjafjalla-Vulkan schleuderte sie in den Himmel, der Wind treibt sie über Europa - und stellt den internationalen Luftverkehr auf den Kopf. Die "Cumulus chaoticus" in Bildern.

Vielleicht sollten wir uns aber auch an die gute alte Kunst des maßvollen Reisens erinnern: Reisen als Weg, der Entfernungen wieder erfahrbar macht. In diesen Tagen werden wohl viele genau daran denken, wenn die unterschiedlichsten Landschaften fremder Länder am Zugfenster vorbeiziehen. Manche merken auch: Man muss eigentlich nicht für kurze drei Tage nach Mallorca jetten. Andere stellen fest: Zwei Wochen New York bringen mehr an Erholung, Erfahrung und Intensität als der übliche Kurztrip, um nur mal schnell beim Marathon mitzulaufen.

Unsere ausufernde Mobilitätslust brachte in den letzten Jahrzehnten eine große Beliebigkeit mit sich - sinnfällig sichtbar an den vielen Last-Minute-Reisebüros, die unsere Flughäfen zieren: Das Ziel ist egal, Hauptsache weit weg, und das auch noch schnell.

Viel wäre schon geholfen, wenn wir uns vor jeder Fahrt, vor jedem Trip und jedem Flug es uns ein zweites Mal überlegen, ob es wirklich notwendig ist. Denn: Alternativen wird es immer geben. Dann wird uns auch ein einzelner Vulkan nicht mehr so sehr ausbremsen können. Ansonsten sind wir irgendwann vielleicht tatsächlich nur noch im Irgendwo unterwegs.

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