Süddeutsche Zeitung

Fahrradmarkt:Engpass auf zwei Rädern

In diesem Jahr boomte der Fahrradmarkt, zahlreiche Händler waren ausverkauft. Doch wie geht es 2021 weiter? Viele Kunden könnten enttäuscht werden.

Von Marco Völklein

Für Stefan Reisinger von der Messegesellschaft Friedrichshafen war das Jahr 2020 bislang eine einzige Achterbahnfahrt - wie für die gesamte Fahrradbranche. Zuerst der wegen der Corona-Pandemie verhängte Lockdown, der auch viele Fahrradläden zur Schließung zwang (in einigen Bundesländern durften nur die Werkstätten geöffnet bleiben). Dann zog die Nachfrage spürbar an. Und nun die bange Frage: Wie geht es weiter mit dem Fahrradboom im nächsten Jahr? Und wie wird die Politik darauf reagieren? Schließlich steht im Herbst die Bundestagswahl an.

Messe-Mann Reisinger in Friedrichshafen jedenfalls musste bereits im Frühjahr die für September 2020 geplante Branchenschau Eurobike auf einen Termin im November verschieben. Eine Art "Eurobike light" war da geplant mit weniger Besuchern und geöffnet nur fürs Fachpublikum. Doch als sich abzeichnete, dass die Zahl der mit dem Sars-CoV-2 Infizierten ansteigt und damit auch wieder zusätzliche Reisebeschränkungen in Kraft treten werden, entschieden die Messemacher vor Kurzem: In diesem Jahr fällt die Weltleitmesse rund ums Rad endgültig aus.

Gewaltige Nachfrage

Dabei erlebte die Branche zuletzt einen Boom wie lange nicht mehr. Nach Angaben des Herstellerverbands ZIV stieg die Zahl der verkauften Fahrräder und Pedelecs im ersten Halbjahr auf 3,2 Millionen Stück - das bedeutet einen Zuwachs gegenüber dem Vorjahreszeitraum von etwas mehr als neun Prozent. Und das wohlgemerkt, obwohl die meisten Fahrradläden ihren Verkauf im März und April wegen des Lockdowns hatten schließen müssen.

Viele Radhändler hatten in dieser Zeit auf Online-Beratung umgestellt. Wer also ein Fahrrad kaufen wollte, konnte sich beispielsweise per Videokonferenzprogramm in den Laden schalten - und am Bildschirm vom Verkäufer alles zeigen lassen. Das sei eine enorme Herausforderung für viele in der Branche gewesen, sagt Albert Herresthal vom Händlerverband VSF. "Wir wurden zur Digitalität gezwungen." Vieles davon könne man nun für die weitere Zukunft nutzen. Die Stimmung im Radhandel sei deshalb optimistisch, zugleich seien viele Händler "aber auch erschöpft".

4,3 Millionen Haushalte

besaßen nach Angaben des Statistischen Bundesamts zu Beginn des Jahres 2020 mindestens ein Pedelec, also ein Fahrrad mit elektrischem Hilfsmotor. Zum Vergleich: Anfang 2015 waren es noch 1,5 Millionen Haushalte. Damit hat sich die Zahl der Pedelecs binnen fünf Jahren fast verdreifacht. Den Angaben zufolge gibt es mittlerweile etwa in jedem neunten Haushalt in Deutschland (11,4 Prozent) mindestens ein E-Bike. Vor allem bei älteren Menschen seien die Pedelecs beliebt, erklärten die Statistiker.

Tatsächlich wurde der Handel vielerorts regelrecht überrannt. Wer etwa im Juli in die Filiale der Zweiradhandelskette Stadler in München-Haidhausen ging und hoffte, dort noch ein Velo zu erstehen, der fand sich auf einer komplett leergekauften Verkaufsfläche wieder; viele Hersteller kamen mit der Lieferung nicht mehr hinterher - zumal Bauteile wie Rahmen, Schaltung oder Laufräder aus Fabriken in Asien kommen. Und wie in vielen anderen Branchen gerieten auch die Lieferketten der Radhersteller wegen des Corona-Lockdowns durcheinander. Und egal wen man fragt in den Unternehmen, von allen Seiten hört man aktuell: So richtig gebessert hat sich die Lage bislang noch nicht.

Entsprechend sorgenvoll schauen viele Händler und Hersteller auf das kommende Jahr. Von einer Art "Klopapier-Effekt" berichtet zum Beispiel Heiko Truppel vom Liegeradhersteller HP Velotechnik aus Kriftel im Taunus. Aufgrund der Erfahrungen aus dem laufenden Jahr kauften viele Hersteller derzeit alle möglichen Teile auf, "auf Teufel komm raus". Viele Zulieferer in Asien hätten zudem das Problem, ihre Fertigung nicht mal eben so ausbauen und der gestiegenen Nachfrage anpassen zu können. Für viele Produkte seien Wartezeiten von der Bestellung bis zur Auslieferung von zwölf bis 14 Monaten mittlerweile die Regel. "Wir müssen extrem weit vorplanen, um uns Produktions-Slots zu sichern", ergänzt Lara Santjer vom Radsport-Großhändler Sport Import, der einen Großteil seiner Ware aus Asien bezieht.

Aber auch Zulieferer mit Sitz in Deutschland haben so ihre Probleme. "Die Nachfrage ist extrem groß, unsere Produktion läuft voll", berichtet Nils Wigger vom Elektromotorenhersteller Brose, der seine Antriebe in einem Werk in Berlin fertigt. Wartezeiten bis weit in den Mai hinein seien aktuell durchaus realistisch, so Wigger.

Der Boom könnte in Enttäuschung umschlagen

"Es kann daher gut sein", ergänzt Jörg Müsse vom Händlerverbund Bike & Co., "dass die Händler die ganze nächste Saison von der Hand in den Mund leben müssen." Sie also nur die Fahrräder verkaufen können, die die Hersteller ihnen liefern - und nicht etwa die Modelle, welche die Kunden gerne haben würden. Für viele Radkäufer, befürchtet Müsse, dürfte das eher unbefriedigend sein. Wenn es ganz schlecht läuft, so warnen bereits manche, könnte der gewaltige Fahrrad-Boom aus diesem Jahr im kommenden Jahr gar in eine enorme Enttäuschung umschlagen.

Hinzu kommt, dass es zuletzt auch auf den Straßen vielerorts enger wurde, weil mehr Radfahrende unterwegs waren. In einigen Städten wurden sogenannte Pop-up-Bike-Lanes eingerichtet, also mit gelber Farbe zusätzlich auf die Straße gepinselte Radstreifen - und den Autos vielerorts dafür Platz weggenommen. Das führte zu lauten Protesten von Autofahrern und deren Verbänden, in Berlin zog die AfD gegen die zusätzlichen Radstreifen vor Gericht, in München werden sie demnächst wieder entfernt. Ohne eine sichere Infrastruktur aber, also ohne ausreichend breite Radwege und -streifen sowie entsprechend gesicherte Überwege an großen Kreuzungen, werde es nicht gelingen, mehr Menschen dauerhaft aufs Rad zu holen, glaubt Ragnhild Sørensen vom Berliner Verein "Changing Cities", der sich für eine - wie sie es nennt - "Verkehrswende" hin zu einer umweltfreundlicheren Mobilität einsetzt.

Mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Herbst ist es daher aus Sicht von VSF-Mann Herresthal erforderlich, dass sich Händler und Hersteller, aber auch die vielen jungen Dienstleister, die sich rund ums Fahrrad etabliert haben, etwa Radvermieter oder Leasinganbieter, zusammentun und gegenüber der Politik mit einer Stimme auftreten - ganz so, wie es Vertreter der Automobilindustrie seit Jahrzehnten praktizierten. Aktuell jedenfalls, berichtet Andreas Hombach von WSM, einem Hersteller von Radabstellanlagen, hätten viele Kommunen ihre Planungen für neue Fahrradinfrastrukturen "nach hinten verschoben". Offenbar seien vor allem kleinere und mittelgroße Verwaltungen mit der Eindämmung der Covid-19-Pandemie so beschäftigt, dass nur wenig Raum bleibe für verkehrspolitische Fragen.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2020/reek
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