Süddeutsche Zeitung

Fahrradhandel:Boom auf zwei Rädern

Die Corona-Pandemie vermieste vielen Händlern den Saisonstart. Mittlerweile steigt die Nachfrage rasant, das Fahrrad scheint der Gewinner der Krise zu sein. Doch ein Problem bleibt: Auf den Radwegen geht es schon jetzt mehr als eng zu.

Von Marco Völklein

Der Satz auf der Internetseite des Bike Service Gruber in Haag, knapp 50 Kilometer östlich von München, klingt vielversprechend: "Zu unserem Service gehören selbstverständlich auch Reparaturen aller Art." Vergangenes Jahr noch konnte man sogar ein Fahrrad einer Marke vorbeibringen, die nicht vom Gruber-Team in Haag vertrieben wird. Damit ist es nun vorbei - eine freundliche Dame erklärt am Telefon: "Momentan können wir leider keine Fremdfabrikate zur Reparatur annehmen." Auch ein Schild an der Ladentür weist darauf hin. "Wir werden quasi überrannt", sagt die Dame am Telefon. Bis in den August hinein seien die Werkstatttermine ausgebucht.

Ähnlich geht es vielen Fahrradhändlern. So staut es sich zum Beispiel auch seit geraumer Zeit regelmäßig in der Karl-Liebknecht-Straße in Leipzig. Vor dem Bike Department Ost bilden sich immer wieder lange Warteschlangen. "Land unter" - so beschreibt Radladen-Inhaber Gerd May die Situation seit der Wiedereröffnung Mitte April. Weil sich aufgrund der Abstands- und Hygienebestimmungen maximal 20 Kunden gleichzeitig im Geschäft aufhalten dürften, müsse man beim Radkauf nun eine Extraportion Geduld mitbringen. "Jetzt kommen alle die, die ohne Corona seit März da gewesen wären", meint der Chef von 25 Mitarbeitern, die nun alle mit Mund-Nasenschutz arbeiten müssen.

Gestörte Lieferketten trafen auch die Fahrradbranche

Tatsächlich sind die Monate März und April für die Branche immens wichtig. Dann stehen die neuen Modelle bei den Händlern. Und das schöne Frühlingswetter weckt bei vielen Kunden den Wunsch nach einem neuen Rad. Dieses Jahr aber verdarb die Corona-Krise den Saisonstart: Die Zwangsschließung der Läden in den meisten Bundesländern (nur die Werkstätten durften geöffnet bleiben) und gestörte Lieferketten aus Asien hätten auch die Radbranche heftig getroffen, erklärt der Verband des Deutschen Zweiradhandels. 30 bis 60 Prozent weniger Umsätze hätten die Händler gemacht. Nun aber ist nahezu überall eine Aufholjagd zu beobachten.

"Wir sehen derzeit einen enormen Run auf die Fahrradläden", berichtet David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV), der etwa 100 Unternehmen der Fahrradindustrie vertritt. "Ohne von einem Gewinner der Krise reden zu wollen, muss man festhalten, dass das Fahrrad gerade einen besonderen Moment erlebt." Neben denen, die ohnehin eine Neuanschaffung geplant hätten, kämen nun auch viele Kunden in die Läden, die das Rad für sich wieder entdeckten - unter anderem auch, weil viele Menschen aus Angst vor einer Infektion den öffentlichen Nahverkehr meiden und nun (zum Beispiel für die Fahrt zur Arbeitsstätte) auf das Fahrrad umsteigen. Das zeige nicht zuletzt die gestiegene Nachfrage nach Fahrrädern im Einsteigersegment ab 300 Euro, sagt Eisenberger.

"Wir erleben gerade einen Mini-Fahrradboom"

Die Branche ist schon länger im Aufwind. Im vergangenen Jahr erzielte sie mit Fahrrädern und vor allem dem immer beliebteren Pedelecs, also Fahrrädern mit elektrischem Hilfsmotor, gut 4,2 Milliarden Euro Umsatz - das war ein Zuwachs von 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zudem tendierten die Verbraucher zu hochwertigeren Rädern, sagt Eisenberger: Der Durchschnittspreis lag 2019 über alle Vertriebskanäle bei 982 Euro und damit rund ein Drittel höher als noch im Jahr 2018.

Auch bei den Herstellern läuft die Produktion nun wieder an. Teilweise standen die Bänder bis zu acht Wochen lang still, weil wichtige Teile aus Asien fehlten. So hatte der sächsische Traditionshersteller Diamant Kurzarbeit anmelden müssen, mittlerweile wird wieder gefertigt, wenn auch unter Einhaltung von Mindestabständen und zahlreichen weiteren Hygienemaßnahmen, wie Diamant-Manager Thomas Eichentopf berichtet. Und auch er verzeichnet nach dem Ende des Corona-Shutdowns eine starke Nachfrage: "Wir erleben gerade einen Mini-Fahrradboom." So habe der Betrieb, der seit 135 Jahren am Markt ist, noch nie so viele Suchanfragen auf seiner Internetseite gezählt wie im April.

69 Prozent

der Fahrradwerkstätten und zwei Drittel der -händler gehen nach einer Umfrage des Branchenverbands ZIV davon aus, dass sie im laufenden Jahr den gleichen oder sogar einen höheren Umsatz erzielenals im Vorjahr. VieleBetriebe suchen außerdem dringend Fachkräfte,beispielsweise Zweiradmechaniker, um dieNachfrage bedienen zu können. Bundesweit arbeiten nach ZIV-Angaben etwa 280.000 Menschen in der Fahrradwirtschaft.

Ähnlich gut läuft es bei Rose Bikes in Bocholt: Der Versender verzeichnete im ersten Geschäftshalbjahr, das von November bis Ende April lief, ein Umsatzplus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum und holte 45 neue Mitarbeiter an Bord. In den nächsten eineinhalb Jahren soll die Belegschaft um weitere 60 Mitarbeiter aufgestockt werden. Und auch der E-Bike-Nachrüster Pendix aus Zwickau berichtet von einer hohen Nachfrage. "Das Rad ist ein Riesengewinner dieser Zeit", glaubt Geschäftsführer Thomas Herzog. Selbst der ADAC geht davon aus, dass das Fahrrad neben dem Auto an Bedeutung für den Individualverkehr gewinnen wird.

Es wird eng auf den Radwegen

Die Frage ist nur, wie nachhaltig dieser Boom sein wird. Der Verbund Service und Fahrrad (VSF), der ebenfalls den Fachhandel vertritt, glaubt jedenfalls, dass nur eine starke Infrastruktur "der Schlüssel zum Erfolg" sein kann, wie Verbandsgeschäftsführer Albert Herresthal es formuliert. In vielen Städten seien die Radwege schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie überfüllt gewesen, kämen nun noch mehr Radfahrer dazu, werde es mehr als eng. Städte wie Berlin oder München reagierten zuletzt mit "Pop-Up-Bike-Lanes", also eilig auf den Asphalt gepinselten und mit Warnbaken abgesicherten, zusätzlichen Radwegen, um Velofahrern mehr Platz zu bieten und zum Beispiel schnelleren Radlern ein rascheres Überholen zu ermöglichen.

Weil damit zwangsläufig Autofahrspuren wegfallen, gibt es auch Protest: In Berlin etwa kritisiert der ADAC die neuen Radspuren massiv. Bei einer kurzfristig angesetzten "Vor-Ort-Untersuchung" an drei Wochentagen im April habe man in der Hauptverkehrszeit am Morgen nur "ein minimales Radverkehrsaufkommen und kaum Überholvorgänge" registrieren können, im Schnitt seien sieben Mal mehr Pkw als Radler unterwegs gewesen. Und: "Ein Plus an Sicherheit für Radfahrer konnte der ADAC nicht feststellen", sagt Verkehrsvorstand Volker Krane. Im Gegenteil: Die "übereilte Umsetzung" habe zum Teil sogar "neue Gefahrensituationen geschaffen", etwa an Kreuzungen. Er wirft dem Senat vor, eine "Notsituation auszunutzen, um Partikularinteressen zu verfolgen". Das sei "alles andere als sachgerecht".

Ähnlich sehen das viele Geschäftsleute, die um ihre Umsätze bangen, sollten ihre Läden künftig schlechter mit dem Auto zu erreichen sein. Und Michael Haberland vom Automobilklub "Mobil in Deutschland" betont immer wieder, dass es zwar in den Sommermonaten ein höheres Radverkehrsaufkommen gebe - das ändere sich aber, sobald das Wetter umschlage. Die neu geschaffenen Radwege stünden dann leer, während sich auf den verbliebenen Kfz-Spuren daneben die Autos stauten. Radlobbyisten wie Herresthal plädieren dennoch dafür, die quasi über Nacht geschaffenen Radwege beizubehalten. Und selbst der Auto Club Europa (ACE) fordert, die Radinfrastruktur zu fördern und zugleich die Kapazitäten im öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Und er ergänzt eine grundsätzliche Überlegung: Während des Corona-Shutdowns hatten viele Arbeitgeber ihre Belegschaften ins Homeoffice geschickt. Würden Firmen das Arbeiten von zuhause künftig öfter erlauben, könnte viel Pendlerverkehr vermieden werden.

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SZ vom 06.06.2020/reek
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