Radtest Scott Addict RC:Der nackte Wahnsinn

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Alles clean: Schalt- und Bremszüge sind am neuen Scott kaum mehr zu sehen. (Foto: Scott)

Beim neuen Scott Addict RC sind Schaltzüge und Bremsleitungen komplett versteckt - damit wird das Rad optische Maßstäbe in der Branche setzen.

Von Sebastian Herrmann

Die ersten tiefen Atemzüge füllen die Lunge mit eisiger Kälte. Die Sonne hängt in irgendeinem fernen Tal fest und braucht noch etwas, um sich über die Felsgipfel der Dolomiten zu hieven. Der Himmel ist klar und die Luft knackig kalt an diesem Morgen spät im Jahr. Die Fahrt soll über das Würzjoch und weitere Pässe führen, vorbei an spätherbstgoldenen Lärchen, immergrünen Nadelbäumen und schroffen Felsen. Es wird die letzte Passfahrt mit dem Rennrad in dieser Saison sein, es riecht schon etwas nach Winter. Tritt für Tritt entfernen sich die Alltagsgedanken, die schnaufende Trance des Bergaufradelns setzt ein und der Geist befreit irgendeinen Blödsinn aus entlegenen Keller-Abteilen des Gehirns: "Asterix als Gladiator" meldet sich als Gedanke, lag das Comic-Heft nicht im Kinderzimmer herum? Oft fehlt eine schlüssige Erklärung warum ein konkreter Fahrradeinfall auftaucht. Aber auf dieser Fahrt ist alles klar: Die Form des Lenkers des Scott Addict RC Pro erinnert - die schlanke Halterung des Radcomputers inklusive - von oben an einen v-förmig geschwungenen Dreizack, wie ihn ein römischer Gladiator im Kampf geführt haben könnte, ein Retiarius. Asterix lässt grüßen.

Und damit weg von absurden, fahrradinduzierten Assoziationsketten hin zum Thema: An vielen neuen Rennradmodellen fallen insbesondere die aufwendigen Lenkerkonstruktionen auf - und während einer Fahrt auf einen Pass hat man sehr viel Zeit, um darauf zu schauen und darüber zu brüten. Der Lenker des neugestalteten Scott Addict RC öffnet sich mittig mit zwei nach vorne geschwungenen Krümmungen vom Vorbau aus. Die ganze Karbonkonstruktion besteht aus einem Stück. Der darin integrierte Vorbau selbst ist verhältnismäßig kurz, die Schaltbremsgriffe liegen dennoch in gestreckter Entfernung: Auf dem Addict RC sitzt es sich eher sportlich.

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Neben optischer Auffälligkeit dient der Gladiatoren-Lenker einer weiteren, ebenfalls gerade schwer angesagten Idee, die viele Fahrradhersteller verfolgen: Integration, lautet das Schlagwort. Die Bremsleitungen und die Schaltzüge sind im Lenker integriert, also versteckt und werden komplett unsichtbar durch das auffallend voluminöse Steuerrohr in den Karbonrahmen geleitet. Die neuen Rennräder sollen clean wirken, keine Züge, keine Kabel, keine Bremsleitungen, die die Optik trüben, so das Designkonzept. Als der Komponentenhersteller Sram vor einigen Jahren seine drahtlose Funkschaltung Red Etap vorgestellt hat, sahen solche kabellosen Räder noch provozierend nackt und ungewöhnlich aus. Mittlerweile haben sich die Sehgewohnheiten jedoch angepasst, der Blick hat sich an derart blanke Rennräder gewöhnt. Deshalb wirken Kabel und Züge samt klassischen, mit am Lenker verschraubten Vorbauten selbst an teuren Top-Modellen mittlerweile altbacken. Das Außergewöhnliche wandelt sich offenbar schnell zur erwarteten Norm und entwertet das bisher Gute.

Mit der neu gestalteten Version seines Klassiker-Modells Addict setzt Hersteller Scott nun also einen neuen Standard im Kabelversteckspiel: Die getestete Version RC Pro ist mit einer mechanischen Dura-Ace-Schaltgruppe von Shimano ausgestattet und bis auf wenige Zentimeter kurz vor dem Schaltwerk ist da kein Zug zu sehen, nichts. Auch die Zuleitungen zu den Bremsen - das Addict gibt es nur als Version mit Scheibenbremsen - sind maximal möglich versteckt. Nackter, sauberer geht nicht und das sieht großartig aus. Nur wer auf die Idee kommt, zum Beispiel die Schaltzüge an dem Addict RC Pro selbst zu wechseln, der sollte sich vorher sehr, sehr präzise informieren, wie genau er das zu erledigen hat und wie die Reihenfolge der Arbeitsschritte ist. Es ist ja schon an älteren Rennradmodellen mit, aus aktueller Sicht, notdürftig im Rahmen verborgenen Zügen die Gelassenheit eines Zen-Meisters nötig, um bei so einer Fummelei nicht die Nerven zu verlieren. Die per Magnet fixierte Abdeckkappe über der Steuersatzschraube lässt sich zumindest sehr leicht abnehmen, daran wird es nicht scheitern.

Auch an der Rahmengestaltung offenbart sich, wie rasch sich Sehgewohnheiten anpassen: Die Sitzstreben des Addict setzen unterhalb des Oberrohrs an. Auch das war vor kurzer Zeit noch neu und aufregend. Mittlerweile haben fast alle Hersteller diese Idee übernommen und nun wirken die klassischen Rahmen eben: klassisch. Das Oberrohr des Addict ist flach, das Unterrohr hat im Querschnitt die Form eines sehr kompakten Pizzastücks mit abgerundeten Kanten. Die Lackierung changiert je nach Blickwinkel zwischen einem dunkel-dezenten Lila zu einem gedeckten Grünton und sieht mit dem krachigen gelben Schriftzug fantastisch aus.

An den Syncros-Laufrädern hat Scott 28-Millimeter-Reifen montiert, die dem Rad viel Komfort verleihen. Erschütterung schlucken die Schwalbe One V-Guard sehr gut weg. Die klassischen, hellbraunen Flanken runden die Optik des Rads ab. Auch das ist ja mittlerweile wieder Mode, komplett schwarze Reifen fast schon öde.

Die Sattelstütze bietet zusätzlichen Federkomfort, die winzige Sattelklemme fügt sich optisch sehr dezent ein. Das Addict RC Pro hinterlässt einen sehr guten Fahreindruck, es lenkt sich wendig, ohne unruhig zu wirken und fühlt sich schlicht und einfach stimmig an. Die getestete Version RC Pro wiegt laut Hersteller 7,3 Kilogramm (ohne Pedale) und kostet 6999 Euro. Das Einstiegsmodell (RC 30) des neuen Addict gibt es für 3499 Euro, für das Top-Modell (RC Ultimate) verlangt Scott happige 11 999 Euro. Das aufgeräumte Addict wird sicherlich optische Standards setzen. In der folgenden Modellsaison werden gewiss viele Premium-Modelle von letzten sichtbaren Kabelresten befreit und mit auffälligen Lenkern versehen sein. Sie werden neue absurde Gedanken durch den Schädel jagen.

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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