Süddeutsche Zeitung

Verkehrspolitik:Druck von der Straße

In vielen Städten sammeln Aktivisten Unterschriften für bessere Fahrradwege. Doch was setzen die Kommunen am Ende wirklich um?

Von Marco Völklein

Wer verstehen will, warum der Ausbau des Radverkehrs in manchen deutschen Städten eher langsam vonstatten geht, der sollte sich einmal mit Fahrradaktivisten auf den Marktplatz von Jena stellen. Keine zehn Minuten dauert es, bis ein Mann auf die Initiatorinnen und Initiatoren des Radentscheids in der Universitätsstadt in Thüringen zukommt und Dampf ablässt: Er wolle nicht mehr, sondern weniger Radfahrer auf den Straßen.

"Die halten sich an keine Verkehrsregeln", schimpft er. Und zeigt damit auch: Die Widerstände gegen einen Ausbau des Radverkehrs sind mitunter groß - nicht nur in Jena, auch anderswo. In München zum Beispiel war im vergangenen Jahr der Automobilklub "Mobil in Deutschland" vor das Verwaltungsgericht gezogen, um neu errichtete Radwege unter anderem an größeren Ausfallstraßen wie der Rosenheimer Straße, der Elisenstraße und der Theresienstraße zu verhindern. Die Radwege würden "Tausende Autofahrer in den Stau zwingen", argumentierte Michael Haberland, der Präsident des Klubs. Die Stadt als Bauherrin verstoße damit gegen die Straßenverkehrsordnung. Ende Oktober 2021 wies das Gericht die Klage ab. Die Radwege dürfen bleiben.

Etwa 50 Fahrrad-Initiativen bundesweit

In der bayerischen Landeshauptstadt hatten Fahrradaktivistinnen und -aktivisten im Jahr 2019 zwei sogenannte Radentscheide gestartet. Auf Plätzen, in Veranstaltungen und vor Supermärkten sammelten sie Unterschriften, um einen Ausbau der Fahrradinfrastruktur zu befördern sowie den Bau eines innerstädtischen Radringes rund um die historische Altstadt. Pro Entscheid kamen jeweils etwa 80 000 Unterschriften zusammen, nach kurzer Debatte entschied der Münchner Stadtrat mit breiter Mehrheit, die in den beiden Radentscheiden genannten Forderungen zu übernehmen.

Ähnlich lief und läuft es in vielen anderen Städten. Nach einer Zählung des Berliner Vereins Changing Cities liefen beziehungsweise laufen bundesweit in etwa 50 Kommunen solche Initiativen. Beim ersten Radentscheid 2016 in Berlin unterschrieben binnen drei Wochen mehr als 100 000 Menschen. Vielerorts führte der Druck der Bürgerbegehren dazu, dass sich Städte zu mehr und sichereren Radwegen und besserer Finanzierung bekannten. Auch in Jena, wo der Stadtrat im Herbst die Forderungen des Radentscheids annahm. Doch die große Frage ist: Wie geht es danach weiter?

Das politische Ziel ist eigentlich klar: "Fahrräder brauchen mehr Platz in den Städten", findet Verena Göppert, die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetages. Wenn mehr Menschen aufs Rad stiegen, verbessere das unter anderem die Luft- und damit die Lebensqualität in den Kommunen. Und es helfe, die Klimaziele zu erreichen. "Der Wunsch, den öffentlichen Raum in unseren Städten anders aufzuteilen, wird lauter", sagt Göppert.

Neuaufteilung zulasten des Autoverkehrs

Doch eine Neuaufteilung des Straßenraums bedeutet in den allermeisten Fällen, dass insbesondere dem Autoverkehr Platz weggenommen wird - zumal viele Kommunen parallel zur Förderung des Radverkehrs oft auch noch ihr Nahverkehrsangebot mit Bussen und Bahnen erweitern möchten, um im Klimaschutz voranzukommen. Neue Busspuren, zusätzliche Haltestellen, weitere Straßenbahntrassen - all das geht in den meisten Fällen ebenfalls zulasten von Pkw-Fahrspuren beziehungsweise Kfz-Stellplätzen. Vertreter der Autofahrerinnen und Autofahrer wie beispielsweise Mobil-in-Deutschland-Chef Haberland kritisieren dies regelmäßig. Er spricht immer wieder von "ideologischen Maßnahmen" und von Lösungsansätzen, die weder vernünftig noch faktenbasiert seien.

Die Mobilitätsforscherin Anne Klein-Hitpaß vom Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin hält dagegen: "Autofahrende sind bislang die privilegiertesten Verkehrsteilnehmer bezüglich der Flächen. In diesem Vergleich stehen alle anderen Gruppen hinten an." Wer den Radverkehr aber auch den öffentlichen Nahverkehr ausbauen möchte, wer zudem mehr Platz für Fußgängerinnen und Fußgänger schaffen, zusätzliche Spielflächen für Kinder ausweisen sowie Ruhezonen mit Grünflächen und Sitzbänken einrichten will, der komme nicht darum herum, dem Autoverkehr Platz wegzunehmen. Doch das berge Konfliktpotenzial.

"Jeder traut sich leicht zu sagen: 'Ich will mehr Radverkehr'", sagt die Mobilitätsforscherin. "Wenn dann aber wirklich Parkplätze weggenommen werden, gibt es Widerstand, und plötzlich schwindet der Mut bei den Verantwortlichen." Auch lange Planungsabläufe und fehlendes Personal in den Kommunen könnten dazu führen, dass sich der geplante Ausbau manch eines Radprojekts verzögert.

In Erlangen zum Beispiel hatte eine örtliche Initiative nach eigenen Angaben im Frühjahr 2021 etwas mehr als 5300 Unterschriften an den Stadtrat übergeben - auch dort hatte nach Verhandlungen mit dem Oberbürgermeister am Ende das Kommunalparlament einen "Zukunftsplan Fahrradstadt" aufgelegt. "Damit ist in die Radverkehrsförderung und die Verkehrswende spürbarer Schwung gekommen", sagt Chloé Heusel von der Erlanger Initiative. Erste Fahrradstraßen wurden nach Angaben der Initiative bereits umgestaltet, der Stadtrat beschloss zudem, mehr Geld in den Ausbau der Radinfrastruktur zu stecken. Und er entschied, sechs zusätzliche Stellen in der Stadtverwaltung zu schaffen. "Wichtig ist, dass nun das zugesagte Personal auch eingestellt wird", heißt es aus der Initiative - und zwar rasch und prioritär. Druck aus der Bürgerschaft wollen Heusel und ihre Mitstreiter notfalls erneut organisieren.

Auch Rebecca Peters, die neue Bundesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), baut auf die Initiativen in den Städten, Landkreisen und Gemeinden. Politische Bekenntnisse zum Fahrrad gebe es zuhauf, "aber der Mut zum beherzten Handeln fehlt noch in zu vielen Rathäusern und Verkehrsverwaltungen", sagt sie. Es komme darauf an, dass engagierte und fachkundige Menschen sich für mehr Nachhaltigkeit und Lebensqualität einsetzten. Peters sagt: "Die Verkehrswende braucht noch mehr Druck von der Straße." Entsprechende Ansätze verfolgen Verbände wie der ADFC, der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) und der Fußgängerverband FUSS auch auf Ebene der Bundesländer: So läuft in Hessen seit Herbst eine Unterschriftensammlung für ein landesweites Verkehrswendegesetz. Am Ende wollen die Initiatoren so ein Volksbegehren zu ihrem Gesetzentwurf auf den Weg bringen.

"Ein Angebot an die Kommunen"

Ähnlich sieht es Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities, der den Berliner Radentscheid organisiert hatte und nun als eine Art Netzwerk für Radentscheid-Initiativen agiert. Fast alle Städte und Gemeinden hätten Probleme mit zu viel Autoverkehr. "Ein Radentscheid ist ein Angebot an die Kommunen, das Problem proaktiv anzugehen", findet sie. Doch viele Kommunen gingen nicht mutig genug an das Problem heran und schreckten vor dem zu erwartenden Widerstand zurück. "Mit ein paar neu gepinselten Radstreifen ist das Problem nicht gelöst."

In Berlin beispielsweise seien die Forderungen zwar übernommen worden. Im Jahr 2018 wurde ein neues Mobilitätsgesetz verabschiedet, das den Vorrang von Fuß-, Rad- und öffentlichem Nahverkehr vorschreibt. "Der tatsächliche Umbau der Stadt erfolgt allerdings zögerlich." Nehme man das Tempo vom Jahr 2020 als Maßstab, würde es 200 Jahre dauern, bis das Mobilitätsgesetz umgesetzt sei. Auch in München gab es zuletzt Streit um die Umsetzung. Die Vertreter des Radentscheids warfen Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) vor, sich von den Zielen des Stadtratsbeschlusses absetzen zu wollen.

Das will Städtetag-Vertreterin Göppert so nicht stehen lassen: "Die Städte legen sich bereits ins Zeug und fördern das sichere Fahrradfahren", beteuert sie. Sie bauten Radwege aus, zögen Haltelinien an Ampeln vor oder entschärften Gefahrenstellen an Kreuzungen. Die Erwartungen der Radfahrerinnen und Radfahrer seien hoch - Planungs- und Bauprozesse brauchten aber ihre Zeit. Zumal in vielen Kommunen ein eklatanter Mangel an Fachpersonal herrscht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wurde im vergangenen Jahr eine Werbekampagne gestartet, um mehr junge Leute für solche Aufgaben zu begeistern.

Mobilitätsforscherin Klein-Hitpaß indes rät zur Kompromissbereitschaft - und meint damit sowohl die Verwaltung als auch die Bürgerinitiativen. Ein gewisser Pragmatismus auf beiden Seiten könne helfen, sagt sie. "Ich glaube, dass wir in zehn Jahren fahrradfreundliche Städte haben können." Nötig dazu seien politischer Mut in den Kommunen, der ein oder andere Radentscheid vor Ort sowie schnellere Planungen - "dann kann es vielleicht sogar noch eher gelingen".

Mit Material von dpa.

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