Auf den ersten Blick ist alles wie gehabt. Das kantige Design wirkt im Rückspiegel des Vordermanns wie eine Kriegserklärung, der martialische Motorsound überzieht nicht nur bei Volllast sogar die Trommelfelle mit Gänsehaut. Knüpft der Huracán genau dort an, wo der Gallardo nach 14 022 verkauften Exemplaren aufgehört hat? Ja und Nein.
Natürlich setzt die Marke auch in Zukunft auf extrovertierten Auftritt, stimmgewaltigen Antrieb und souveräne Leistung. Doch der Ritt auf der Rasierklinge, den wir in den verschiedenen Ausbaustufen des zickigzackigen Gallardo erlebt haben, gehört der Vergangenheit an. Das Coupé mit der kryptischen Modellbezeichnung LP610-4 orientiert sich eher am Aventador, der deutlich talentierter ist als sein Vorgänger und gleichzeitig wesentlich zugänglicher. Der Huracán übernimmt diese Botschaft, indem er neue Werte wie Beherrschbarkeit und Ausgewogenheit so emotional verpackt und untermalt wie man es von der italienischen Audi-Tochter erwarten darf.
Endlich eine Seele
Der Ein- und Ausstieg durch die konventionell angeschlagenen Türen will geübt sein, und auch die Bedienung erklärt sich erst auf den zweiten Blick: versteckte Drucktasten links vom Lenkrad, sieben Kippschalter dicht an dicht oben auf der Mittelkonsole, drei Etagen tiefer der Start-Stopp-Knopf im knallroten Metallkäfig und der praktische Zugbügel für den Rückwärtsgang. Die Farbwelten reichen vom klassischen Tiefschwarz bis Quietschgrün oder Jaffaorange. Statt Rundinstrumenten hat der Fahrer ein großes farbiges TFT-Display im Blick. Im Full Drive Modus dominiert der Drehzahlmesser, im gemischten Fahrprogramm werden diverse Zusatzinformationen mit eingeblendet, bei aktivierter Navigation bestimmt die Kartendarstellung das Bild. Head-up-Display? Assistenzsysteme? Panoramadach? Dreimal Fehlanzeige. Dafür hat der Huracán als erster Lamborghini eine Seele. Anima heißt nämlich der rote Taster im unten abgeflachten Lenkrad.
Damit lässt sich die Fahrdynamikregelung in drei Abstimmungen vorwählen. Was fehlt, ist eine Individual-Position für die persönliche Lieblingseinstellung, eine separate Entkoppelung der Dämpfer und eine auf Knopfdruck anwählbare aggressivere ESP-Zwischenstufe.
Die Änderungen liegen im Detail
Motorisch sind die Italiener eher der Tradition als der Moderne verpflichtet. Hubraum-Downsizing ist in Sant'Agata ebenso wenig ein Thema wie ein Wechsel vom V10 zum V8 oder die Umstellung vom Sauger zum Turbo. Die Änderungen liegen vielmehr im Detail: effizientere duale Einspritzung mit direkten und indirekten Phasen, Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe statt automatisiertem Schaltgetriebe, Allradantrieb mit Lamellen- statt Viscokupplung, breite 20-Zöller statt 19 Zoll-Reifen, serienmäßig Karbon-Keramik-Bremsen, gegen Aufpreis variable Lenkungskennung und adaptive Dämpfer.
Der 1422 Kilo schwere Zweisitzer spurtet in 3,2 Sekunden von null auf 100 km/h und ist mehr als 325 km/h schnell. Mit 12,5 Liter verbraucht der Huracán im Schnitt elf Prozent weniger als sein Vorgänger. Der Listenpreis ohne Extras klettert auf 201 705 Euro. Mit diesen Eckdaten spielt der Lambo in der gleichen Liga wie der Ferrari 458 Speciale, der McLaren 650S, der Porsche 911 Turbo S und der in wesentlichen Elementen baugleiche Audi R8. Der fährt als V10-Topmodell mit 600 PS unerwartet dicht an den Italiener heran, der 610 PS und ebenfalls 560 Nm mobilisiert.
Bereit für eine Probefahrt? Dann übernimmt für die nächsten Augenblicke der rechte Zeigefinger das Kommando: Motor starten, Schaltprogramm in M für manuell einloggen, Anima in Stellung Sport, per Lenkradpaddel den ersten Gang anwählen, und los geht's. Der V10 dreht willig hoch, klopft in den unteren Fahrstufen schon relativ früh an den Begrenzer, klingt dicht und gierig, blubbert unter Teillast nur mehr verhalten, steuert über Ansaugapparat und Klappenauspuff Stimmlage und Lautstärke.
Das Segeln muss der 5,2- Liter-Motor erst noch lernen, doch schon an der ersten Kreuzung überrascht uns der Kampfstier mit einer geräuschlosen Start-Stopp-Kunstpause. Das Getriebe legt in Abhängigkeit vom Fahrprogramm die Gänge sanft oder per linkem Haken ein, die Drehmomentverteilung erfolgt im Extremfall zur Hälfte an die Vorderachse beziehungsweise komplett an die Hinterachse, die elektromechanische Dynamiklenkung variiert die Übersetzung um fast 100 Prozent. Im Stadtverkehr bewirkt kleiner Kraftaufwand große Lenkwinkel, doch bei hohem Tempo haben Gelassenheit und Richtungsstabilität erste Priorität. Minimale Gegenlenkimpulse sollen dabei helfen, Lastwechsel-Übersteuern und Einlenk-Untersteuern zu entschärfen.
Das neue Modell bringt die Kraft besser auf den Boden
Gegen Aufpreis installiert Lamborghini einen hydraulischen Vorderachslift, Leichtbauräder und das über die Anima-Taste verstellbare Fahrwerk. Die variable Kennung beeinflusst den Federungskomfort und das Fahrverhalten - letzteres zum Beispiel beim Einlenken durch gezieltes Erhöhen der Dämpfkraft am kurvenäußeren Vorderrad. Gebremst wird mit Scheiben aus Verbundwerkstoff, die heiß gefahren derartig nachhaltig verzögern, dass sich für kurze Augenblicke sogar der Anstellwinkel der Ohren ändert. Die speziell für den Huracán angemischten Pirelli-Reifen halten auf den Geraden brav die Spur, bauen in Kurven viel Grip auf und rollen den Grenzbereich ermutigend breit aus.
Was uns dieses Auto sagen will? Dass Lamborghini dazugelernt hat, die fahrdynamischen Ecken und Kanten zu einer insgesamt runderen Abstimmung zu verschleifen und das kompromisslose Wesen des Gallardo einer sportiven Aufgeschlossenheit gewichen ist. Das neue Modell bringt die Kraft per Sperrdifferenzial noch besser auf den Boden, bewahrt selbst auf üblen Rüttelpisten ein Mindestmaß an Federungskomfort und verbindet ausgelassene Drehfreude mit einer deutlich explosiveren Kraftentfaltung. Der Huracán bleibt dabei entspannt und transparent bis ans Limit. Manchmal braucht es einen Seitenblick auf das Wappen im Lenkrad, dass wir wirklich in einem Lamborghini sitzen. Wenn auch in einem, der sich vom brachialen zu einem geschmeidigen Sportwagen gewandelt hat.