"Estonia"-Unglück:Warum sie sank, wie sie sank

Schiffbau-Experten aus Hamburg simulieren den Untergang der "Estonia" am Computer, um die Ursache endgültig zu klären.

Ralf Wiegand

Es ist vielleicht der letzte offizielle Versuch, das Geheimnis zu lüften. Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Juristen haben Jahre lang versucht zu ergründen, warum in der Nacht zum 28. September 1994 die Ostseefähre M/SEstonia unterging.

estonia, bergung; ap

Beweissicherung: Die abgerissene Bugklappe war das Einzige, was von der Estonia nach ihrem Untergang geborgen wurde - ein entscheidendes Bauteil, das, so lassen es Archivbilder vermuten, nicht im allerbesten Zustand war.

(Foto: Foto: AP)

Manche Experten forschten im Auftrag der estischen und schwedischen Regierungen, andere wurden genau von diesen Stellen bei ihren Recherchen behindert.

Eine befriedigende Erklärung dafür, was in jener stürmischen Nacht auf der Ostsee ablief, als 35 Kilometer von der finnischen Insel Utö entfernt die 155 Meter lange Estonia innerhalb von 30 Minuten unterging und 852 Menschen den Tod brachte, hat es aber nie gegeben (die SZ berichtete). Nun versuchen Hamburger Schiffbau-Experten zu klären, warum die Estonia sank, wie sie sank.

Deutsch-schwedische Kooperation

Das schwedische Parlament, unzufrieden mit den bisherigen Untersuchungen, beschloss im vergangenen Jahr, eine Studie über den Sinkvorgang der Estonia auszuschreiben.

Ein Teil des Auftrags fiel an die Hamburgische Schiffbau-Versuchsanstalt (HSVA), die wiederum die Technische Universität Hamburg-Harburg (TUHH) und das dortige Institut "Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit" ins Boot geholt hat.

Auch ein schwedisches Team arbeitet mit. Gemeinsam sollen die Wissenschaftler klären, so der Auftrag der schwedischen Regierung, ob das Sinkverhalten der Estonia zu der bisherigen Annahme passt, dass das Schiff die Bugklappe verlor, Wasser übers Fahrzeugdeck eindrang, die Estonia kenterte und sank - oder ob nicht viel mehr an Bord passiert sein muss.

Momentan werten die Hamburger Experten die Zeugenaussagen von Überlebenden aus. 120 bis 130 Protokolle seien das, sagt Petri Valanto, 48, Projektleiter bei der HSVA: "Wir werden verschiedene Szenarien annehmen und prüfen, welche möglich sind und welche nicht."

Der dritte deutsche Partner, die TraffGo HT GmbH, wird die HSVA bei einer "Evakuierungssimulation unter Berücksichtigung der Schiffsbewegung" unterstützen, erklärt Valanto. So ließe sich der Zeitrahmen des Kenterprozesses ermitteln. Das schwedische Team wird ein Estonia-Modell bauen und sinken lassen. In eineinhalb Jahren könnten die Untersuchungen abgeschlossen sein.

Um die Ursache des schwersten Schiffsunglücks in Friedenszeiten auf der Ostsee endgültig festzustellen, müsste man nach Ansicht aller Experten nach dem Wrack der Estonia tauchen. Das aber verbietet die schwedische Regierung, offiziell aus Respekt vor den im Schiff eingeschlossenen Toten.

Heimlicher Transport von Militärmaterial

Seit vor knapp zwei Jahren aufgedeckt wurde, dass die Estonia heimlich für den Transport von Militärmaterial benutzt worden war, steht diese Pietät aber in einem ganz anderen Licht. Welches Geheimnis liegt da in rund 80 Meter Tiefe? Ist die Estonia Ziel eines Anschlags geworden?

"Ob die Bugklappe weggesprengt wurde oder ob sie abgefallen ist, weil der Kapitän zu schnell gegen eine hohe Welle gedonnert ist, ist für mich zunächst nicht relevant", sagt Stefan Krüger, 42, Leiter des Instituts für Schiffssicherheit an der TU Harburg. Sein Szenario beginnt erst nach dem Abfallen der Klappe.

Im Prinzip sind sich alle Fähren ähnlich. Millionen Menschen und Hunderttausende Fahrzeuge überqueren mit solchen Schiffen jährlich allein die Ostsee. Tausende Fährverbindungen gibt es weltweit, auf den abenteuerlichsten Routen. In den allermeisten Fällen geht alles gut. Das Fahrzeugdeck, die sensibelste Stelle dieses Schiffstyps, bleibt trocken, weil die Klappen halten.

Warum sie sank, wie sie sank

Die Bugklappe der Estonia hielt nicht. Das Schiff hatte am 27. September 1994 gegen 19.15 Uhr im estischen Tallinn abgelegt, die Ankunft in Stockholm war für den nächsten Morgen gegen 9.30 Uhr vorgesehen.

estonia; dpa

Ging am 28. September 1994 unter: die Estonia

(Foto: Foto: dpa)

Um 1.24 Uhr hörten Schiffe in der Nähe den letzten Notruf, auf Finnisch. Valanto, selbst Finne, übersetzt die Aufzeichnung: "Mayday Mayday Estonia bitte... Guten Morgen, sprichst du Finnisch?...Ja, wir haben hier nun ein Problem, eine schwere Schlagseite nach Steuerbord, ich glaube zwanzig bis dreißig Grad. Könntest du zu Hilfe kommen und auch Viking Line zu Hilfe bitten..." Die Estonia gab noch ihre Koordinaten durch. Dann: Stille.

Spezielle Software

Krüger wird in den nächsten Monaten seine Computer mit allen greifbaren Informationen füttern. Er ist spezialisiert aufs Kentern und Sinken. Die Software seines Instituts simuliert die Flutung aller Hohlräume des Schiffes, kann also die Frage beantworten: Wie schnell muss in welchen Raum wie viel Wasser eingedrungen sein, damit die Estonia genau so sank, wie sie gesunken ist? Oder: Was musste geschehen, damit die Estonia so sank, wie sie sank?

Über Jahre ist dieses schon seit 1985 existierende Modul stetig entwickelt und in der Praxis von Schiffbauern benutzt worden. Ingenieur Krüger konstruierte selbst Fähren in Flensburg. Im Laufe der Estonia-Untersuchung könnte die Software erweitert werden, um weitere Annahmen berechnen zu können - etwa, dass Fahrzeuge auf dem Deck verrutscht wären.

"Bisher keine Hinweise auf Detonation"

So wissenschaftlich die Untersuchung auch ist - am Ende könnte sie Futter für neue Spekulationen liefern. Die Berechnungen und Modellversuche in Hamburg und Schweden könnten zum Beispiel zum Ergebnis haben, dass eine abgerissene Bugklappe allein nicht dazu führen konnte, die Estonia auf diese Weise zu versenken, nämlich "sehr schnell und übers Heck", wie Krüger sagt.

Womöglich musste es dazu weitere Ereignisse an Bord gegeben haben, andere Schäden. Ein Leck unterhalb der Wasserlinie etwa, wie die Buchautorin und Journalistin Jutta Rabe annimmt? Eine Explosion sogar? "Nach den Berichten, die ich bisher schon gelesen habe, gibt es auf eine Detonation keine Hinweise, so viel kann ich sagen", sagt Petri Valanto. Aber es gibt andere Zeugen-Schilderungen von Ereignissen, die so nicht abgelaufen sein können: "Die gilt es zu bewerten."

"Miserabel gewartet"

Auch Stefan Krüger weiß schon etwas: "Dass die Estonia miserabel gewartet war." Seiner Meinung nach wäre sie, wenn nicht in dieser Nacht, dann in einer anderen verunglückt, weil die Bugklappe der Krafteinwirkung, der sie ausgesetzt war, offensichtlich nicht gewachsen war.

"Aber auf keinen Fall", sagt der Professor, "werden wir uns mit der Frage von juristischer Schuld beschäftigen." Ihm, dem Experten für Kenter-Vorgänge, und HSVA-Projektleiter Valanto, Spezialist für numerische Simulation, geht es mehr um die größtmögliche Annäherung an die physikalischen Abläufe jener Nacht. Valanto: "Und selbstverständlich bin ich dankbar für jeden einzelnen Hinweis darauf, warum die Bugklappe abgefallen ist."

Für Stefan Krüger wäre auch ein Erfolg, würde die Studie in Zukunft die Vorschriften für Schiffssicherheit beeinflussen. Die Estonia hat - wie einst der Untergang der Titanic - "zu umwälzenden Veränderungen der Sicherheitskultur" geführt, sagt Krüger; seiner Meinung nach nicht nur zu sinnvollen. Dennoch fährt er selbst noch gern auf Schiffen - aber niemals, ohne vorher zu prüfen, "wo meine Schwimmweste ist".

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