Süddeutsche Zeitung

Endstation, Niemandsland, Unglücksort:Hafen-Geschichten

Fernweh, Spelunken, Verfolgung - Literaten beschreiben eine längst vergangene Welt voller Seeleute und Glücksritter, Schmuggler und Gestrandeter, Fischer und Reisender.

Andreas Zielcke

Es ist ja nicht so, dass Häfen nur Männer faszinieren. Aber Frauen teilen schwerlich diesen gynophilen erotischen Blick, wenn sich die Bucht öffnet und das Schiff in den Hafen einläuft. Da ist so mancher Mann an der Reling von Sinnen, auch wenn der eine oder andere dann doch über das Geschlecht, das die Hafensilhouette für ihn verkörpert, eine abweichende Meinung hat.

Raue Vitalität

Einer zum Beispiel wie der französische Dichter Louis-Ferdinand Céline, der sich New York vom Meer her nähert, erkennt in der Skyline höchst irritiert eine strenge Amerikanerin: "New York ist eine senkrechte Stadt. Wir hatten natürlich schon Städte gesehen, schöne auch, und Häfen, auch berühmte. Aber bei uns, nicht wahr, da liegen die Städte, liegen am Meer oder an den Ufern eines Flusses, sie räkeln sich in der Landschaft, erwarten den Reisenden willig, während diese Amerikanerin hier durchaus nicht schwach war, nein, sie stand starr da vor uns, machte absolut nicht die Beine breit, stand so starr, dass man es mit der Angst zu tun bekommen konnte."

Ein anderer wie Stefan Zweig deutet die in die Höhe gereckte Gestalt New Yorks nicht als bedrohliche Domina, sondern als pure Maskulinität: "New York grüßt härter, energischer: wie ein nordischer Fjord wirkt es mit seinen aufgetürmten eisweißen Kuben. Manhattan ist ein männlicher, heroischer Gruß, der steil aufgestoßene menschliche Wille Amerikas, ein einziger Ausbruch zusammengefasster Kraft." Weiblich, das ist für ihn etwas ganz anderes: "Rio dagegen bäumt sich einem nicht entgegen - es breitet sich aus mit weichen, weiblichen Armen, es empfängt in einer weit ausgespannten zärtlichen Umarmung, es zieht an sich heran, es gibt sich mit einer gewissen Wollust dem Blicke hin."

Derlei männliche Imaginationen erzeugen Häfen leicht, zumal wenn man von der offenen See her kommt mit ihrer, wie es Goethe einmal auf seiner Schiffsreise nach Sizilien formuliert hat, "großen, simplen Linie" des Horizonts - und dann auf die sich aus dem Dunst über dem Wasser langsam abzeichnenden Rundungen, Hügel und Kurven der Küste zufährt. Aber mögen sich auch die sentimentalsten erotischen Bilder aufdrängen, sie prägen meist nur den ersten sehnsuchtsvollen Eindruck. Am Ende schiebt sich die raue Vitalität der Hafenwelt in den Vordergrund, auch bei Schriftstellern, zumal bei denen, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ihre Romane und Erzählungen um Hafenstädte kreisen ließen.

Denn es waren besonders diese fünf oder auch sechs Jahrzehnte, in denen viele Häfen zwar zu den betriebsamen Umschlagplätzen des Welthandels wurden mit ihren immer gewaltigeren Piers, Kränen, Speicherstädten, Reeden und Werften, aber noch längst nicht aufgegangen waren in den heutigen Container-Terminals, die mit dem Hafen alten Typs so wenig gemein haben wie ein Supertanker mit einem Gewürzschiff der Ostindischen Compagnie. Es waren jene Jahrzehnte, in denen die Häfen noch bevölkert waren von Seeleuten und Glücksrittern, von Schmugglern und Gestrandeten, von Fischern und obskuren Wirtsleuten - und dazwischen wenige mondäne Vergnügungsreisende. Und es waren auch jene Jahrzehnte, deren Kriege und totalitäre Regime endlose Reihen politischer Flüchtlinge in Häfen wie Marseille, Lissabon, Sanary-sur-Mer, Haifa und Schanghai trieb.

Pittoreske Hafenkulissen, schnelllebige Transitzentren

Selten hat sich eine Epoche in ihren Hafenstädten eine solch charakteristische Mixtur aus lebendiger und trister Ortlosigkeit verschafft wie diese: ein drastisches Nebeneinander von nüchternem industriellem Umschlag und vagabundierendem Freigeist, von modischer Extravaganz und traditionellen Spelunken, von professionellem Überseehandel und armseligen Krämergeschäften, von Flüchtlingselend und Flüchtlingshoffnung.

So unaufhaltsam sich altehrwürdige und pittoreske Hafenkulissen in diesen Jahren in schnelllebige Transitzentren wandelten, so herausfordernd und sentimental lockten noch die letzten Phantasmen des Seeabenteuers - gerade weil sein historisches Ende nicht mehr allzu fern zu sein schien. Noch lebten von seinen Gefahren, Faszinationen und Versprechen die Molen, Kneipen, Bordelle und auch die Büros der Heuermaate selbst jener Häfen, die bereits vom rationalisierten Handel eingenommen waren.

Kein Wunder darum, dass es vor allem diese Epoche war, deren Schriftsteller wie Joseph Conrad, Jack London, B. Traven oder auch noch Ernest Hemingway die Seefahrt und die sieben Meere mit hartem Realismus gezeichnet haben, einem Realismus, der gleichwohl im Hintergrund melancholisch-romantisch gestimmt ist. In Florian Beckerhoffs Anthologie "Häfen - Eine literarische Kreuzfahrt" kann man in kleinen Dosen diese reportagehafte Sachlichkeit und ahnungsvolle Sehnsucht nacherleben, mit der die Schriftsteller damals die Hafen- und Seewelt in sich aufnahmen.

Von Schatzinseln, Flaschenpost, geheimen Karten und unbekannten Meereswesen träumte im 20. Jahrhundert niemand mehr, die Zeit von Robert Louis Stevenson und Jules Verne war so lange nicht her, aber dennoch tief versunken. Allein mit welcher präzisen und bildstarken Delikatesse Joseph Conrad aus dem Blickwinkel eines jungen Seemanns beschreibt, wie dieser mit einem Segelschiff von den Londoner Docks ablegt, versetzt in die Aufbruchs- und Abschiedstimmung jener Jahre: "Der Morgen war klar, farblos, mit grauem Himmel; das Dock glich einer dunklen Glasscheibe, in der sich auf dem Kopf stehende Widerspiegelungen von Speichern, Rümpfen und Masten schweigender Schiffe zusammendrängten . . . Die Besatzung kam langsam an Bord. Er musterte die Gesichter der Leute, während sie das geräumige Deck mit dem Schurren ihrer Füße und dem Gemurmel ihrer Stimmen erfüllten, als erwache eine Welt zum Leben, die gleich darauf ins All entsandt werden sollte."

Im Hafen von Piräus lässt Nikos Kazantzakis erstmals Alexis Sorbas in seinem gleichnamigen Roman auftauchen - diese Figur, deren Ungebundenheit, dionysische Lust, Amoral und Virilität in das Klischee des Hafenbohemiens dieser Zeit passen.

Bei Henry Miller in Le Havre, bei Gabriel Garcia Marquez in Cartagena und auch bei Hemingway in Havanna treiben ähnliche Gestalten durch deren Hafenszenen, wenn es nicht eh ihr Alter Ego ist. "So brachen wir auf in die Nacht", beschreibt Miller einen exzessiven Ausflug in die Bistros und Freudenhäuser Le Havres, "ins Hafenviertel hinunter, wo Musik, Geschrei und betrunkene Flüche zu hören waren, wobei Collins über dies und jenes plauderte, über einen Jungen, in den er sich verliebt hatte . . . Von da kam er wieder auf den Baron de Charlus zurück aus Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' und dann auf Kurtz aus Conrads 'Herz der Finsternis'. Das war sein Lieblingsthema. Es gefiel mir, wie Collins sich dauernd vor diesem literarischen Hintergrund bewegte. Es war wie bei einem Millionär, der nie aus seinem Rolls Royce ausstieg, Phantasie und Wirklichkeit waren für ihn ein Reich."

Aber natürlich verfiel auch Henry Miller diesem Sog des Hafens, die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufzugeben, und doch war es seine Ambition wie die seiner zeitgenössischen Dichterkollegen, sich dabei wie von außen zu beobachten und nüchtern zu beschreiben: mit dem Rolls Royce seiner Halluzination in die maritime Unterwelt, die Schreibmaschine auf den Knien.

Restlos verdrängt wurde alle Phantasie dort, wo die brutale Realität der politischen Verfolgung Flüchtlinge in Scharen in die Häfen trieb, die nirgends so hilflos zum Spielball des Zynismus wurden wie hier. Beschrieben von Anna Seghers, die in Marseille, auf der Flucht vor den Nazis, ihre Wartezeit vor allem im Café Mont Ventoux an der Cannebière verbrachte: "Am Nebentisch saß an jenem Nachmittag eine Gruppe von Einheimischen, die hier ganz gut von der Furcht und der Abfahrtswut der Neuankömmlinge lebten. Sie erzählten sich lachend von einem Schiffchen, das zwei junge Ehepaare - die Männer waren gemeinsam aus dem Lager geflohen - für höllisch viel Geld gemietet hatten. Doch die Verkäufer hatten sie betrogen, das Schiffchen hatte ein Leck. Sie kamen bis an die spanische Küste. Da mussten sie wieder zurück. Sie fuhren noch die Rhônemündung hinein, da wurden sie von der Küstenwache beschossen und gestellt."

Um die letzte Hoffnung betrogen, das haben viele Häfen ihre Passagiere, ihre Seeleute, ihr Personal. Dass sie immer auch Endstationen, Niemandsland und Unglücksorte waren, gehört zu ihrer Natur. Ihre Poesie hat dies aber nie zerstört. Selbst im Verfall, den Hemingway im Hafen von Havanna beobachtet, den er Jahrzehnte vorher als wildes und blühendes Zentrum erlebt hatte, faszinieren noch die marode-malerischen Züge der alten Molen und schmutzigen Schaumkronen im Hafenbecken.

Und jeder Hafen hatte seine Zeit vor dem Verfall! Wer wollte nicht noch einmal eine solche Zeit maritimer Unschuld erleben und wie einst Jack London in Pearl Harbor landen: "Wir konnten das alles nicht gleich fassen. Uns war, als träumten wir. Auf der einen Seite schlug das azurblaue Meer über den Horizont in den azurblauen Himmel, auf der anderen Seite hob sich das Meer zu smaragdfarbenen Brechern empor, die in schneeigem Dunst auf ein weißes Korallengestade fielen."

Das war 1907 - 34 Jahre später fielen japanische Bomben auf diesen Traum.

"Häfen - Eine literarische Kreuzfahrt"; herausgegeben von Florian Beckerhoff; Eichborn Verlag; 192 Seiten; 100 Fotografien und Abbildungen; 24,95 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.574125
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 5.7.2008/gf
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.