Süddeutsche Zeitung

Elektromobilität:Mehr Lebenszeit für Autofahrer

Volvo-Chef Håkan Samuelsson liebt schwedische Autos und chinesisches Geld. Nun plant er, als erster etablierter Hersteller der Welt nur noch neue Modelle mit Elektromotor auf den Markt zu bringen.

Von Silke Bigalke und Max Hägler

Der Wagen, der draußen auf ihn wartet, ist natürlich nicht irgendein Auto. Es ist derzeit das einzige seiner Sorte, das in Europa herumfährt. "Chinesisch", sagt Håkan Samuelsson grinsend, sein Fahrer hält ihm die Tür auf.

Die Limousine passt kaum zum grauen Schick des schwedischen Bürogebäudes in Göteborg. Auf dem Heck steht groß Volvo, doch unter der Modelbezeichnung S90 sind die Zeichen: chinesisch. "Ist schön, das auszuprobieren", sagt der Volvo-Chef über dieses Auto in Langversion. "Ist auch größer." Dann sind Håkan Samuelsson und sein chinesischer Spezialwagen verschwunden.

Der Chef von Volvo ist, neben dem Ikea-Gründer Ingvar Kamprad, der wohl bekannteste Wirtschaftsmensch Schwedens. Und wer die jüngsten Zahlen ansieht, kann sagen: einer der erfolgreichsten. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Jahr nicht wieder ein Rekordjahr würde. Auch in Deutschland, wo er neun Jahre bei MAN gearbeitet hat, erst als Chef der Nutzfahrzeugsparte, dann als Vorstandsvorsitzender, schauen sie auf ihn. "Der Elektro-Schocker" wurde er jüngst vom Handelsblatt genannt. Als erster etablierter Hersteller der Welt will Volvo vom Jahr 2019 an nur noch neue Modelle auf den Markt bringen, die einen Elektromotor enthalten, und sei es nur zum Hilfsantrieb, als Hybrid. Der schwedische Konzern möchte so zukunftsorientiert, so elektrisch sein wie Tesla, und doch besser. Schließlich hat er 90 Jahre Erfahrung im Autobau.

Der Weg dorthin ist nicht immer leicht. Für Volvo nicht, und für Samuelsson auch nicht. Denn als er im Jahr 2012 Chef von Volvo wurde, da übernahm er ein Unternehmen in Schwierigkeiten, eines mit einem großen Namen, aber - so meinten die Beobachter - ohne große Zukunft.

Kurz danach besuchte Samuelsson die große Autoschau in Frankfurt. An einem gemütlichen Abend während der Messe sinnierte er in einem dunklen Weinlokal über sein Ideal: Volvos müssten künftig wieder mehr nach Volvo ausschauen. Skandinavisch nüchtern, mit diesen typischen Abbruchkanten, denen man den innewohnenden extragehärteten Stahl ansah. Ein Volvo war früher beinahe genauso unverkennbar wie eine Ente von Citroën. So sollte es weiterhin sein, oder besser gesagt wieder, nachdem Volvo die Jahre zuvor so mittelmäßig aussah und vielleicht auch deswegen so sehr in der Krise steckte.

Doch was ist von den angestrebten Kanten geblieben? Das Auto, das vor der Tür wartet, hat jedenfalls keine mehr. "Volvo muss nicht eckig und kantig sein", sagt der Chef inzwischen. Und auch er selbst, den sie in München schon mal als "sturen Elch" bezeichneten, scheint es inzwischen gezielt zu vermeiden, anzuecken. Er ist nun dabei, Volvo neu zu designen. Das Unternehmen anzupassen an die Umstände. An die Klimaauflagen. An eine neue Kundengeneration, die keine Autos mehr besitzen möchte. Und an die Wünsche des chinesischen Eigentümers Geely, der Volvo im Jahr 2010 für 1,3 Milliarden Dollar von Ford gekauft hatte.

Selten in der Wirtschaft sind Europa und China so eng verzahnt wie in Göteborg, verbunden mit allen Chancen und Unwägbarkeiten, die diese ungewöhnliche Konstellation mit sich bringt: Hier ein europäisches Unternehmen mit langer Tradition und viel Know-how, dort ein asiatisches mit langem Atem und viel Geld.

Deutschland ist die Messlatte, in jeder Hinsicht

Geely ist chinesisch und bedeutet: "Glück verheißend". Mit Selbstbewusstsein begann man vor zwei Jahrzehnten mit dem Wagenbau, war damit der erste privatwirtschaftliche Autokonzern Chinas. Mittlerweile gibt es schon eine ganze Markenfamilie, die auch auf Volvo-Technik zurückgreift: Polestar heißt eine neue Sportwagen-Marke. Für die Mittelklasse werden Autos namens Lynk & Co angeboten. Auch die Londoner Taxis gehören mittlerweile zu diesem chinesischen Konzern: Sie fahren elektrisch, mit Hilfe der Schweden. Bleibt da Raum für eigene Entscheidungen? Håkan Samuelsson sagt, er könne ganz frei vom chinesischen Eigner agieren, er spricht von "Distanz auf Armlänge", von gemeinsamen Projekten und von Vertrauen. "Da gibt es kaum Überwachung, auch wenn das immer wieder einmal geschrieben wird."

Volvo bleibe eine schwedische Marke. Eine Marke, die es ohne die Chinesen heute wohl nicht mehr geben würde - sie waren die Retter vor der drohenden Pleite. Könnten Volvo und Geely also zum Vorbild werden in der globalen Wirtschaft? Die Ziele, die Samuelsson verfolgt, sind jedenfalls ehrgeizig. Er will die Zahl der Autos, die Volvo verkauft, innerhalb der nächsten drei Jahre von 500 000 auf 800 000 erhöhen. Er will sich heranpirschen an BMW, Daimler und Audi, die drei deutschen Premiumhersteller, die heute alle jeweils mehr als zwei Millionen Fahrzeuge bauen, aber beim Umstieg auf die Elektromobilität nicht ganz so radikal und getrieben sind. Die meisten Autos setzt Volvo inzwischen zwar in China ab. Doch Deutschland ist die Messlatte, in jeder Hinsicht: "Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, können wir in Europa aufgeben", sagt er über seine alte Wirkungsstätte. Vielleicht ist der einst kastenwagige Volvo deswegen so gefällig geworden, kaum zu unterscheiden von den deutschen Marken.

Auch wenn Samuelsson sagt, dass er immer noch ein prägnantes Design habe. Man müsse sich nur das T-förmige Licht anschauen, erklärt er. Sie nennen das "Thors Hammer", Samuelsson zeigt in einer Broschüre Lampen, wie sie auch sein chinesischer Dienstwagen hat. So kurios funktioniert Markenbildung heutzutage: über die Form des Lichtes. Samuelsson selbst hat wenig von einem Donnergott. Zufrieden lächelt er, als er zuvor an diesem sonnigen Tag in seinem Büro empfängt. Wobei: Büro trifft es kaum, er hat den Stehtisch davor gewählt. Die alte Volvo-Zentrale in Göteborg wird gerade renoviert, Samuelsson ist in ein Provisorium gezogen. Die ganze Routine, die andere Manager wie eine Schutzhülle brauchen, Besprechungsräume, sorgsam angerichtete Wasserflaschen, das fehlt hier. Håkan Samuelsson wirkt trotzdem so entspannt wie einer, dem nichts passieren kann. Vielleicht ist das auch die Gelassenheit eines erfahrenen Menschen, 66 Jahre alt ist er.

Volvo galt lange als Kultmarke, war beliebt bei seinen Kunden, weil die Skandinavier für Korrektheit standen wie die deutschen Hersteller und doch oft sympathischer, weniger besserwisserisch wirkten. Saab für den anspruchsvollen Akademiker, Volvo für die anspruchsvolle Familie - so ging das über Jahrzehnte. Bis die Technologien in den Autos zu teuer wurden: Die Nischenmarke Saab konnte das nicht mehr stemmen, wurde abgewickelt. Volvo schien es genauso zu ergehen. Geely sprang ein und holte bald Samuelsson an die Volvo-Spitze, einen Mann, der zu dem Zeitpunkt selbst in einer Krise steckte.

In den Jahren zuvor hatte Samuelsson in München den Lastwagenbauer MAN aus der Lethargie geholt, das Geschäft verbessert, den Leuten ihren Stolz zurückgegeben und zeitweise sogar versucht, den Rivalen Scania zu übernehmen, für den er zuvor 23 Jahre lang gearbeitet hatte. Doch er konnte den Erfolg nicht lange feiern, die Übernahme scheiterte, Scania und MAN wurden stattdessen von VW übernommen. Und dann kam auch noch die Staatsanwaltschaft wegen eines Schmiergeldskandals im Vertrieb. Weil er es sich auch noch mit dem damaligen Patriarchen Ferdinand Piëch verscherzt hatte, musste Samuelsson gehen. Er war zu kantig damals. Die Wohnung in München behielt er übrigens noch lange. Er mag diese Stadt, hat Freunde hier, hat sich an Schweinebraten und Tatort-Schauen gewöhnt. Es schien damals sein Karriereende zu sein. Er hatte zwar noch ein paar Aufsichtsratsmandate, aber plötzlich viel Zeit, um Oldtimer zu fahren. Samuelsson zeigt ein Foto auf seinem Handy, ein gelber 1800er von 1967 steht da vor einem roten Sommerhaus. So schön das auch ist - der Ruhestand war nichts für ihn.

Nun hat er seinen Vertrag bei Volvo gerade für zwei weitere Jahre verlängert. Elektroautos überall, das ist der Plan, der in Göteborg einigermaßen absurd wirkt. Ungefähr alle in der Stadt fahren Volvos, die meisten offenbar mit Dieselmotoren an Bord, man riecht und hört es in diesen kühlen Tagen. Das ist wie in Stuttgart mit Mercedes. Und es ist ein Thema, bei dem der freundliche Herr Samuelsson ins Schlingern gerät. Der Manager, der trotz seiner hageren Erscheinung etwas Gemütliches hat, brummt dann zwischen den Sätzen noch lauter: Mhmmm. Mhhmmmm.

Aber man muss darüber reden: Auch Volvos sind auf der Straße mitunter weit schmutziger als am Prüfstand, sind in der Vergangenheit bei Abgastests negativ aufgefallen. "Wir haben immer und stets alle Gesetze eingehalten, da gibt es kein Zweifeln!", sagt Samuelsson. Aber, ja, er wolle nicht bestreiten, dass die alten Dieselmodelle nicht so gut waren. Die jetzigen seien besser. Aber nun sei Schluss: "Der Diesel wird sehr, sehr komplex, wenn er sehr sauber sein soll." Komplex heißt teuer. Zu teuer für Volvo, diesen kleinen Hersteller. Volvo hat gar keine andere Wahl, als die Entwicklung einer Antriebsart aufzugeben. 1,6 Milliarden US-Dollar hat das Unternehmen 2016 in Forschung und Entwicklung gesteckt. Bei BMW waren es fünf Milliarden Euro. Das ist der Grund, wieso sich die Schweden auf Hybrid-Wagen konzentrieren und auf Elektro. Jedenfalls sofern die Verbraucher mitziehen. Auch da scheint Samuelsson flexibel zu bleiben: "Wenn sich etwas ändert in der Neigung der Kunden, dann entwickeln und verkaufen wir auch weiterhin Diesel-Motoren. Wir werden nicht am Bedarf vorbeibauen!"

Als man die Fabrik besichtigt, baut Volvo gerade mal nichts. Die Produktionsanlage ist verwaist, kein Mensch zu sehen an den Bändern. Die Monitore mit den Produktionszielen leuchten rot: Ziel nicht erfüllt. In deutschen Fabriken wäre nun Großalarm. In Schweden ist man entspannter. Ein technischer Defekt, erklärt die Unternehmenssprecherin, deswegen geht es nicht weiter. Sie findet das nicht weiter tragisch, ist sowieso gleich Mittagspause. Gewöhnlich arbeiten hier 6500 Leute in drei Schichten. Aber noch nicht an rein elektrisch betriebenen Autos. Und doch will Samuelsson bis zum Jahr 2025 eine Million davon verkaufen.

War das Bekenntnis zum E-Auto am Ende nur ein PR-Coup? Und wie viel hat es damit zu tun, dass China die Hersteller nun zum Bau einer Mindestzahl von E-Autos verpflichtet? Der Chef und Gründer der Geely Gruppe, Li Shufu, gilt als gut vernetzt, ist einer der reichsten Männer Chinas, das als wichtigster Zukunftsmarkt für alternative Antriebe gilt. "Nein, das war Zufall", sagt Samuelsson, "für uns ist es eine strategische Entscheidung." Herr Li hat also nie um einen Elektro-Volvo gebeten, von denen Samuelsson bis 2021 sogar fünf bauen möchte? "Nein", sagt Samuelsson.

Der erste Volvo lief vor 90 Jahren vom Band. Im Unternehmen hängen Fotos von Menschen, die ihren Wagen eigenhändig in Göteborg abgeholt haben. Volvos bescheidene Art, sich selbst zu feiern. Und doch zeigt sich spätestens am Hafen, wem die Zukunft gehört. Nahe der Marina, wo schöne Segelboote für Ausfahrten in die Schären vertäut sind, haben sie Lagergebäude aus Backstein hergerichtet, an vielen steht "CEVT", China Euro Vehicle Technology.

Es ist die Gemeinschaftsunternehmung, in der Geely Technik für alle Tochterfirmen bündeln will. Auch Lynk & Co sitzt hier, eine Geely-Automarke, die man bald auch in Europa kaufen kann. Das ist dann die Fortführung der interkontinentalen Zusammenarbeit: Eine von CEVT gemeinsam entwickelte Plattform. Viel Technik von Volvo. Dazu ein eigenes Design. Gebaut wird das Ganze in China - und mit einem neuen Geschäftsmodell vertrieben: Die Lynk-Autos lassen sich per Flatrate im Internet mieten, ohne Autohaus. Mit Volvo muss Samuelsson jetzt nicht nur schnell ein paar Elektroautos entwickeln. Er hat auch andere Dinge versprochen, etwa, dass ab 2020 kein Mensch mehr in einem neuen Volvo ums Leben kommt. Auf Twitter hat der Volvo-Chef letzthin das Foto eines völlig gecrashten Autos gepostet: Ein brasilianischer Volvo-Besitzer habe mit seinem XC60 zwei Kühe erwischt. Der offenbar weitgehend unverletzte Fahrer wolle sich, schrieb Samuelsson weiter, sogleich einen neuen Volvo kaufen. Soll heißen: Ein solch sicheres Auto. Und ein so bequemes.

Skandinavier könnten sich schneller bewegen, schneller Dinge verändern

In Zukunft soll ein Volvo dem Fahrer sogar eine Woche Lebenszeit pro Jahr einsparen. Zum Beispiel, weil die Wagen angeblich von 2021 an selbst fahren können, zumindest auf Überlandstrecken, die in Schweden besonders lang und ruhig sind. 2021 - dann werde er wahrscheinlich Aufsichtsratsprotokolle im Auto lesen, sagt Samuelsson, und dabei Chain Smokers hören. Oder Coldplay. Für Abba hat der Schwede nichts übrig. Um dem Volvo das Selbstfahren beizubringen, haben sie ihn kürzlich nach Australien geschickt. In Schweden läuft einem höchstens mal ein Rentier vors Auto. Mit hüpfenden Kängurus hatte der Wagen dann auch Probleme. "Das ist eine ganz entscheidende Technologie: Objektidentifikation", sagt Samuelsson. "Wenn die Maschine noch nie ein Känguru gesehen hat, wird es schwierig." Neugierig sein und lernen sollen auch seine Leute. Er habe von den Deutschen gelernt, auf Details und Qualität zu achten. Von den Schweden hat er die Flexibilität. Skandinavier könnten sich schneller bewegen, schneller Dinge verändern: "Wenn wir miteinander reden, ist das weniger komplex." Das sei bei solch "interkontinentalen Angelegenheiten" vielleicht hilfreich. Er sei ein Chef, sagt Samuelsson, der seinen Mitarbeitern nichts vorschreiben, sondern sie überzeugen will im Sinne der schwedischen Konsensverliebtheit. Durchgreifen? "Völlige Zeitverschwendung", sagt er. "Wenn ich sagen würde: 'So wird es gemacht', hieße es später auf dem Korridor: 'Der ist doch verrückt'."

Dort auf den Korridor hängt Samuelsson jede Montag einen neuen Spruch auf. "Detail makes the difference" steht da gerade, eine Erinnerung an die deutsche Gründlichkeit. Vielleicht auch eine subtile Botschaft an die Mitarbeiter? Überzeugungsarbeit ist mühsam. Da fällt ihm gleich der Spruch für nächste Woche ein: "Never give up", niemals aufgeben.

Man darf annehmen, dass er auch einmal so etwas wie "Stur bleiben" aufhängt. Wenn die Zeit dafür wieder gekommen ist.

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Quelle:
SZ vom 09.12.2017/ick
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