Ein bisschen ironisch ist das schon: Da geben sich Entwickler in der Automobilindustrie jahrelang die größte Mühe, die Autos auf der Straße leiser zu machen. Und jetzt, wo fahrende Elektroautos kaum noch einen Mucks von sich geben, müssen sie in eben diese Fahrzeuge künstliche Geräusche einbauen, damit sie wieder lauter sind. Das Problem: Die lautlos herannahenden Stromer sind ein zu großes Sicherheitsrisiko für Fußgänger.
Diese Meinung vertritt zumindest die Europäische Union. Bereits 2014 hat sie deshalb eine Verordnung verabschiedet, die vorsieht, Elektro- und Hybridautos mit einem akustischen Warnsystem auszurüsten, dem " Acoustic Vehicle Alerting System", kurz AVAS genannt. Zunächst muss das AVAS von Juli 2019 Bestandteil aller neu entwickelten Elektroautotypen sein. Zum Sommer 2021 darf dann kein Hybrid- oder reines Elektrofahrzeug mehr ohne ein solches Akustiksystem vom Fließband laufen. Ist er also geplatzt, der Traum vom geräuschlosen Straßenverkehr?
Der Ton eines Stromers endet bei 20 Kilometern pro Stunde
Ganz so tragisch ist es nicht, denn das AVAS muss in der EU nur bis zu einer Geschwindigkeit von 20 Kilometer pro Stunde einen Sound abspielen. Fährt das Auto schneller, sind die Rollgeräusche der Reifen ohnehin lauter als der Motor eines normalen Verbrenners, so die einhellige Meinung von Technikfachleuten. Es geht also im Prinzip nur um die Phase des Anfahrens.
Verkehrssicherheitsexperten unterstützen die Verordnung der EU. Fußgänger verließen sich auf alle ihre Sinne - und damit eben auch auf das Gehör, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). "Wenn man kein Auto hört, läuft man schon mal auf die Straße, ohne richtig zu gucken." Gefährlich sei vor allem, dass E-Autos gerade beim Anfahren ein viel höheres Beschleunigungsvermögen haben als herkömmliche Verbrenner - da bleibt weniger Zeit zum Ausweichen.
Eine Studie der US-amerikanischen Verkehrsbehörde NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) ergab schon 2009, dass die Wahrscheinlichkeit eines Fußgängerunfalls bei Elektrofahrzeugen "doppelt so hoch" sei wie bei ihren konventionellen Pendants. In der Folge erließ die US-Behörde ebenfalls eine Vorschrift, die einen akustischen Warnton bei Stromern vorschreibt - in den USA muss der Ton sogar anhalten, bis die Schwelle von 19 Meilen pro Stunde überschritten ist. Das entspricht etwa 30 Stundenkilometern.
In Deutschland gebe es noch keine Unfallstatistiken speziell zu Elektroautos, "dafür sind einfach noch zu wenige auf der Straße", sagt UDV-Forscher Brockmann. Aktuell ermittelt sein Institut in einem Experiment, wie groß die Gefahr für Fußgänger ist. Geprüft wird, ob Fußgänger die Geschwindigkeit von Elektroautos richtig einschätzen und Beschleunigungen erkennen können. Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, sei ein Warnton "als Sicherheitsmaßnahme sehr wichtig", findet Brockmann. Er denkt pragmatisch: "Wenn sich herausstellt, dass es doch keinen Einfluss auf die Verkehrssicherheit hat, kann man es ja auch wieder abschaffen."
Ähnlicher Meinung ist Welf Stankowitz, Referatsleiter für Fahrzeugtechnik beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Insbesondere Blindenverbände hätten sich für ein System wie AVAS stark gemacht, aber "es gibt daneben auch genügend andere Leute, die nach dem Gehör gehen". Brenzlige Situationen sieht er da nicht etwa an den "dicken, großen Straßen", sondern in verkehrsberuhigten Zonen und auf Parkplätzen. Orte, an denen viele Fußgänger unterwegs sind und Kinder auf der Straße herumtollen.
Wie der Sound des AVAS klingen soll, gibt die EU-Verordnung nicht genau vor. Geregelt ist lediglich, dass "das Schallzeichen mit dem Geräusch eines Verbrennungsmotors vergleichbar" sein muss. Damit sind die langen, fantasiereichen Diskussionen vom Tisch, ob ein E-Auto künftig bellen, wiehern, Klingeltöne abspielen oder gar sprechen könnte. So schräg das klingen mag, glaubt man Welf Stankowitz, stand das alles mal zur Debatte. Das sei aber natürlich alles Unsinn gewesen.
Außerdem soll das Geräusch laut EU "eindeutig auf das Fahrzeugverhalten hinweisen". Sprich, Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer müssen erkennen können, ob das Auto bremst oder beschleunigt. Diese Richtlinien lassen den Autobauern dennoch Spielraum, ihren individuellen Elektrosound zu entwickeln.
Eine Limousine klingt anders als ein Roadster
Den nutzen sie auch kräftig: So vergleicht BMW-Sprecher Wieland Brúch den Klang der Elektrofahrzeuge seines Unternehmens mit einer Turbine, Typ "Raumschiff Enterprise". Beim französischen Hersteller Renault soll der Fahrer zwischen drei unterschiedlichen Tönen auswählen können; wonach die klingen, wollte der Hersteller nicht verraten. Das Partnerunternehmen Nissan hat seinem Sound für künftige Elektrofahrzeuge 2017 sogar schon einen Namen gegeben: "Canto" heißt er und leitet sich vom lateinischen "Ich singe" ab.
Die Sounds sind bei einigen Autobauern auch je nach Fahrzeugtyp verschieden. So strebt Mercedes an, dass sich eine Limousine im Klang "entsprechend eindeutig" von einem sportlichen Roadster unterscheidet; ebenso sollen die E-Autos von BMW je nach Modell und Marke andere Geräusche von sich geben. Unterschiede gibt es außerdem im Innenraum: Während das AVAS im Inneren von BMW-Elektroautos nicht zu hören sei, setzt Daimler sogar "einen Fokus" darauf: "Der Fahrer will hören, was er tut", begründet Sprecherin Madeleine Herdlitschka. Der Sound des Antriebs vermittle Information und Emotion.
Der Fahrer kann den Sound abdrehen
Ein eher im Kleingedruckten verstecktes Detail der EU-Verordnung macht dann doch stutzig: Es besagt, dass das AVAS über einen "für den Fahrer leicht erreichbaren Schalter" verfügen muss, mit dem er das System ausschalten kann. Beim Neustart des Fahrzeugs soll das System dann automatisch wieder angeschaltet sein. Die meisten Autobauer haben die Verordnung hier beim Wort genommen; nur in Nissan-Fahrzeugen ist der Sound im Vorwärtsgang nicht abschaltbar, im Rückwärtsgang aber sehr wohl.
Sicherheitsexperte Siegfried Brockmann reagiert auf die Abschaltoption mit großem Unverständnis. Das sei "absolut nicht sinnvoll". DVR-Mann Stankowitz hält das hingegen für "keine ganz große Sache". Manche Situationen erforderten einfach, dass das Auto kein Geräusch von sich gebe. Wichtiger sei für ihn noch etwas anderes: Die EU schreibt nicht vor, dass ein Stromer schon beim Starten ein Geräusch abgeben muss - wie etwa das einer Zündung. Das sei aber wünschenswert, so der Experte: "Höre ich das Auto erst, wenn es anfährt, kann es schon zu spät sein."