Süddeutsche Zeitung

Eine Industrie im Wandel:Vom Autohersteller zur Software-Company

Lesezeit: 4 min

BMW und Mercedes wollen Vorreiter bei digitalen Geschäftsmodellen sein. Ein wichtiger Schritt dahin ist der persönliche digitale Assistent. Stehen der Mensch und sein Auto bald pausenlos in Kontakt?

Analyse von Joachim Becker

Design, Mode, Kultur - ein paar Klicks auf bunte Bilder und schon findet der digitale Butler das passende Auto. "Sag mir, wie du lebst, und ich zeige dir den perfekten mobilen Partner" - so einfach sieht die Welt für den Mercedes-Lifestyle-Konfigurator aus. Das Echtzeit-Empfehlungssystem kommt gerade rechtzeitig, denn neue Fahrzeuge mit dem Stern lassen sich jetzt auch online bestellen. Für weitere digitale Services rund um die Kundenplattform "Mercedes Me" haben die Stuttgarter gerade eine Business Unit mit 100 neuen Stellen geschaffen.

Das Thema digitale Geschäftsmodelle treibt die gesamte Branche um. Audi-Chef Rupert Stadler verkündet frohgemut, dass die Ingolstädter in wenigen Jahren 50 Prozent ihres Umsatzes "in neuen Feldern" erwirtschaften werden.

Das Nutzererlebnis soll im Vordergrund stehen

Alle führenden Autohersteller gründen momentan Geschäftsbereiche für Mobilitätsdienstleistungen und digitale Services. Die Kunst besteht darin, damit Geld zu verdienen. Deshalb wird in Ingolstadt und Stuttgart jeweils ein Chief Digital Officer (CDO) gesucht. Rupert Stadler erwartet, dass dieser "den kompletten Prozess von der Entwicklung über die Produktion bis zur Vermarktung" definieren kann. Der Autohersteller soll mit "digitalen Roadmaps" stärker wie ein IT-Unternehmen geführt werden.

Die Autoindustrie steht vor einem Paradigmenwechsel. Statt technischer Anforderungen soll nun das Nutzerlebnis im Vordergrund stehen. Doch jeder Kunde ist anders und will mit seinen Wünschen genau verstanden werden.

Mit dem Know-how für maßgeschneiderte digitale Dienste sieht es in der Autoindustrie bisher mau aus. Den Mercedes-Benz-Lifestyle-Konfigurator entwickelten die Big-Data-Spezialisten des Fraunhofer-Instituts (IAIS). Big Data bedeutet, sehr große, heterogene Datenmengen aus verschiedenen Quellen zu handlungsrelevanten Aussagen zu verdichten.

Das System wird immer intelligenter

Der Lifestyle-Konfigurator berücksichtigt mehrere Hunderttausend mögliche Fahrzeugkonfigurationen und eine Vielzahl weiterer Parameter. Das selbstlernende System liefert nicht nur individuelle Empfehlungen, sondern wird mit zunehmender Nutzungsdauer immer intelligenter. Ähnlich selbstlernend ist auch Googles Suchmaschine, die mit jeder Eingabe immer schneller und treffsicherer wird.

Vor zwei Jahren sorgte die Studie "Big Data revolutioniert die Automobilindustrie" für Aufsehen. Automobile werden sich in den Produkteigenschaften immer ähnlicher, schrieben die Autoren von der Unternehmensberatung Bain, "deshalb kommt der Interaktion mit den Kunden sowie deren Erfahrung mit der jeweiligen Markenwelt immer mehr Bedeutung zu". Die Frage ist nur, wie sich durchgängige Geschäftsprozesse zwischen Auto, Cloud und anderen Kontaktpunkten etablieren lassen.

Bisher brach der Dialog mit den Kunden meist ab, sobald der Wagen vom Hof des Händlers fuhr. "Von Firmen wie Google oder Apple kann man lernen, den Kunden wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür muss man aber die Datenbanken vereinheitlichen, die bisher auf die Händler, den Vertrieb des Autoherstellers und die Autobanken verteilt sind", so Jochen Sengpiehl, Marketing-Chef von Hyundai Motor Europe.

Die Kunden von Apple und Google bewegen sich schon heute in digitalen Ökosystemen, die sich nicht nur aus Unterhaltungsplattformen wie dem iTunes-Store, sondern auch aus dem Terminkalender, den Kontakten, Mails und weiteren Smartphone-Apps speisen. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Datenquellen entsteht ein aussagekräftiges Profil. Derart vernetzt kann der viel beschworene Wandel zu neuen Geschäftsmodelle gelingen.

Ein digitaler Spiegel übernimmt die Mobilitätsplanung

Das Beratungsunternehmen McKinsey sieht für neue Konnektivitätsdienste und Mobilitätslösungen goldene Zeiten voraus. Dadurch werde sich der Umsatz der Autoindustrie bis 2030 von rund drei Billionen Euro auf fast sieben Billionen beinahe verdoppeln. Das Wachstum aus dem Autoverkauf werde sich hingegen von vier auf zwei Prozent pro Jahr halbieren.

Mittlerweile arbeiten führende Autohersteller an einem persönlichen digitalen Assistenten, der die Kunden ständig begleiten soll. Auf der Elektronikmesse CES 2016 präsentierte BMW nicht nur eine Cabriostudie auf Basis des i8, sondern auch einen digitalen Spiegel mit Sprachsteuerung, der die Mobilitätsplanung während des Frühstücks übernimmt. "Wie können wir das Fahrzeug in die Mobilität und den digitalen Lifestyle unserer Kunden integrieren? Wie können wir Teil dessen sein, was wir die Kundenreise durch den Tag nennen?", fragte Klaus Fröhlich in seiner Rede in Las Vegas: "Da müssen wir uns mit unseren Prozessen in der Automobilindustrie zum Teil völlig neu aufstellen und das Tempo deutlich erhöhen", so der BMW-Entwicklungsvorstand.

Den ganzen Tag im Kontakt mit dem Kunden

Noch ist der sprechende Spiegel eine Vision. Doch eine Plattform für den Kundenkontakt über den ganzen Tag hinweg wird langsam Realität. BMW Connected heißt der Datendienst, der nach einer Pilotphase in den USA nun auch in Europa startet. Dabei handelt es sich nicht um verteilte Apps oder Datenbanken, sondern "um ein ganzheitliches digitales Konzept, das die individuelle Mobilität nahtlos unterstützt", so BMW.

Technische Basis ist die Open Mobility Cloud: Eine flexible Plattform, die das Fahrzeug über mehrere Touchpoints wie iPhone und Apple Watch nahtlos in das digitale Leben des Nutzers einbindet. In der ersten Version von BMW Connected steht das Reise-Management rund um das Fahrzeug im Vordergrund. Wenn der digitale Assistent weiß, wann der Kunde seinen nächsten Termin hat, kann er nicht nur die optimale Fahrstrecke, sondern auch den genauen Abfahrtstermin anhand von Echtzeitverkehrsinformationen planen.

"Mit BMW Connected kommt der Nutzer pünktlich und stressfrei an", versprechen die Münchner. Was so einfach klingt, setzt in Wirklichkeit einen Kulturwandel voraus: Digitale Geschäftsmodelle müssen zur Kerneigenleistung des ganzen Unternehmens werden, sonst entwickeln sie zu wenig Durchschlagskraft. Folgerichtig steckt hinter BMW Connected kein externer Dienstleister, sondern ein BMW-eigenes Team mit mehr als 200 Entwicklern.

Den 70-köpfigen Kern der Digitaltruppe konnte BMW aus den Trümmern des einstigen Mobilfunk-Marktführers Nokia rekrutieren. Mit perfektem Timing übernahmen die Münchner beinahe die gesamte Entwicklermannschaft für Internet-Plattformen, bevor sie zu Microsoft nach Seattle umziehen sollte. "Ein einmaliger Glücksfall", sagt Dieter May, Direktor Digital Business Models der BMW Group: "Mit unserem Team in Chicago sind wir in der Lage, alle vier Wochen neue Entwicklungen und Updates zu bringen."

Die Instrumente des Autos werden zur großen Bühne

In nur einem Jahr hat die eingespielte Mannschaft eine flexible Service-Architektur konzipiert und ausgearbeitet, die auf den Big-Data-Lösungen von Microsoft Azure aufbaut. Das Nadelöhr bleibt aber das Anzeige- und Bediensystem im Auto. Bisher scheitert das digitale Gesamterlebnis daran, dass sich BMW Connected hauptsächlich auf dem Smartphone abspielt. Ein Wow-Effekt im Auto wird von den Anzeigesystemen mit fest programmierten Inhalten behindert.

Im nächsten Schritt will BMW das Kombiinstrument mit immer neuen Inhalten zur großen Bühne machen. Ab 2017 soll sich die sogenannte Head Unit mit Software-Updates per Luftschnittstelle aktualisieren lassen. Eine dreidimensionale Erlebniswelt im Wagen wäre ein entscheidender Schritt über das Mäusekino des Smartphones hinaus - und damit ein wahrnehmbares Faszinationsplus gegenüber Apple, Google & Co.

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Quelle:
SZ vom 06.08.2016
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