Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:VW gegen Google

Software wird im Auto so wichtig wie der Antrieb. Doch die deutschen Fahrzeughersteller sind bisher noch eher schlecht auf die neue Zeit vorbereitet.

Von Joachim Becker

Früher war alles besser. Die Welt war eine Scheibe mit den Autoherstellern als Fixsternen, um die sich alles drehte. Software existierte in diesem Maschinenbau-Universum höchstens als Beigabe der Lieferanten zu handfesten Bauteilen. Doch die nächste kopernikanische Wende steht unmittelbar bevor. "Infotainment und Konnektivität" ist das Motto der achten Golf-Generation, die auf der IAA im September Premiere feiert. Eine umfassend vernetzte Welt für kleines Geld soll der nächste Kassenschlager aus Wolfsburg werden. Das Problem ist nur: Volkswagen ist spät dran mit seiner Digitaloffensive.

Dafür kommt der Weltmarktführer jetzt in voller Breite: Von 2020 an will allein die Marke VW jährlich mehr als fünf Millionen voll vernetzte Fahrzeuge ausliefern. Sprachassistenten sollen fast alle fahrzeugbezogenen Wünsche erfüllen: Knöpfchendrücken war gestern. Mithilfe von Microsoft bringt Volkswagen auch eine ganze Reihe von Cloud-Diensten auf bis zu zehn Zoll große Bildschirme: We Park ist eine App, die das Smartphone zum Parkautomaten im öffentlichen Raum macht - Abrechnung der Gebühren inklusive. We Deliver ermöglicht Lieferungen aus Online-Shops direkt in den Kofferraum. Und We Experience zeigt Sonderangebote auf dem Weg an oder gibt Tipps zu Wagenwäsche und Parkplatzsuche.

Die Autohersteller haben bisher allein bestimmt. Übernehmen jetzt Software-Firmen das Kommando?

Das klingt praktisch, ist aber technisch anspruchsvoll, weil Echtzeitdaten aus der Fahrzeugelektronik mit genau lokalisierten Serviceangeboten verheiratet werden müssen. Ohne schnelle Mobilfunknetze stottert das digitale Gesamterlebnis genauso wie ohne die Daten-Plattformen in der Cloud. Damit wird die abgeschottete Welt der Maschinenbauer abhängig von den viel größeren Galaxien der Internet-Riesen und Mobilfunkkonzerne. Der "Kampf der Welten um die Vorherrschaft bei der Mobilität der Zukunft", wie es Stefan Bratzel nennt, ist in vollem Gange: "Das bisherige 'Universum' der Automobilbranche, in dem die etablierten Automobilhersteller die dominante Rolle innehaben und fast im Alleingang die Spielregeln bestimmen, löst sich schrittweise auf", schreibt der Leiter des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach. "Langfristig entsteht ein neues Mobilitätsuniversum, das von wenigen Akteuren kontrolliert wird", erwartet Bratzel.

Die (finanzielle) Übermacht von Konzernen wie Google/Alphabet oder Microsoft hat eine Diskussion über die digitale Unabhängigkeit Deutschlands ausgelöst. "Die Vormachtstellung Amerikas in der Cloud ist schwer zu brechen" titelt etwa die FAZ und zitiert Achim Berg, den Präsidenten des Digitalverbandes Bitkom: "Vor knapp dreißig Jahren hat Deutschland seine staatliche Souveränität wiedererlangt. Jetzt muss es darum gehen, unsere technologische Souveränität zurückzugewinnen." Tatsächlich ist diese Cloud-Diskussion genauso spät dran wie die Digitaloffensive von Volkswagen. BMW und Nissan arbeiten schon seit 2016 mit der Microsoft Cloud-Lösung Azure: Die Dienste von BMW Connected wurden innerhalb von neun Monaten in 29 Ländern weltweit ausgerollt.

Für eine Form von Techno-Nationalismus ist in der vernetzen westlichen Welt kein Platz - auch wenn sich China mit eigenen Tech-Konzernen in einem Paralleluniversum bewegt. Längst haben Microsoft, Amazon und Google ihre Cloud-Plattformen mit digitalen Werkzeugkästen angereichert. Damit können Entwickler neue Funktionen in wenigen Wochen realisieren - künstliche Intelligenz inklusive. "Die Kooperation mit Microsoft ermöglicht uns nicht nur, Schlüsseltechnologien schneller zu entwickeln, die den aktuellen Kundenbedürfnissen entsprechen, sondern auch solche, die sich Autofahrer heute noch gar nicht vorstellen können", sagte Ogi Redzic, damals Chef des vernetzten Fahrzeugs bei Renault-Nissan schon 2017.

Es geht also darum, das Innovationstempo der digitalen Welt ins Auto zu bringen. Denn die viel zitierte Generation Golf ist längst zur Generation Smartphone geworden - egal, wie alt die Kunden sind. Deshalb hat sich Volkswagen für eine digitale Unabhängigkeitserklärung entschieden: "Beim Thema Software gehören wir noch nicht zu den Großen", gibt Christian Senger zu. Trotzdem will der neue Volkswagen-Markenvorstand für Digital Car & Services die Software-Standards künftig selbst bestimmen. Der Eigenanteil an der Programmentwicklung soll von derzeit weniger als zehn Prozent bis 2025 auf mehr als 60 Prozent im Konzern steigen. Bis dahin sollen sich 5000 Experten in der neuen Abteilung Car Software um fahrzeugnahe Vernetzungsdienste und ein Infotainmentsystem auf Basis des selbst entwickelten Betriebssystems VW OS kümmern. Letztendlich will Senger aber in der gesamten Bordelektronik aufräumen.

Kann sein, dass Volkswagen als Weltmarktführer eigene Standards setzen und Hardware und Software im Einkauf voneinander trennen kann. Das würde die Bauteile billiger und die Zulieferer austauschbarer machen. Denn die mechatronische Intelligenz käme an entscheidenden Schnittstellen von VW. Dazu gehört auch das Projekt, den bisherigen Flohzirkus von Steuergeräten durch eine Hand voll von Zentralrechnern im Auto zu ersetzen. 70 verschiedene Kleincomputer werkeln allein in einem Mittelklassemodell wie dem VW Tiguan, in Luxusmodellen können es auch doppelt so viele sein. Selbst 5000 Experten würden nicht ausreichen, deren Software regelmäßig per Update zu aktualisieren und so vor Hacker-Angriffen zu schützen. Diese Komplexitätsfalle will Senger mit markenübergreifenden Standards vermeiden: "Unter der Ära Piëch war es ein Führungsprinzip, die Marken im Wettbewerb zu halten. Doch heute würde die Software-Komplexität dadurch viel zu groß. Wir würden trotz der Konzerngröße zu einem digitalen Nischenunternehmen."

Wenn Algorithmen die Motoren des Fortschritts sind - warum nicht auf die bewährten Funktionen und Software-Standards aus der Mobilfunkwelt setzen, die viele Kunden schon von ihrem Smartphone kennen? Zum Beispiel auf die Android Auto Suite, die viel mehr als eine Handy-Schnittstelle sein will: "Die 2018 angekündigte globale Partnerschaft mit Google ermöglicht es uns, bis 2021 ein neues intelligentes Infotainmentsystem für mehrere Marken und Modelle anzubieten", erklärt Renault-Nissan: "Dieses System läuft auf einem integrierten Android-System und bietet Google Maps, Google Assistant und Google Play Store, kombiniert mit Cloud-basierten Remote-Software-Upgrades und Fahrzeugdiagnosen." Viele lokalisierte Services, die Volkswagen mit We Experience erst mühsam anschiebt, gibt es auf Basis der Google-Technologie bereits. Das Android-Betriebssystem läuft nicht nur auf 80 Prozent aller Smartphones, sondern in der ein oder anderen Form schon auf jedem zweiten Neuwagen weltweit.

Auf der IAA in Frankfurt werden die Sprachassistenten auf allen Ständen um die Wette plappern

Im Polestar 2 will die Volvo-Schwestermarke bereits Mitte nächsten Jahres eine tief in die Autotechnik integrierte Gesamtlösung von Android Auto auf den Markt bringen. "Die Android-Plattform, die wir mit dem Polestar 2 einführen, hat so viel Innovationspotenzial, dass wir sofort die Chance erkannt haben, mit der Entwicklergemeinschaft in Kontakt zu treten", erklärt Thomas Ingenlath. Im Mai dieses Jahres hat der Polestar-Chef eine Rede auf der Entwicklerkonferenz Google I/O in Kalifornien gehalten - und die kommende vollelektrische Fließhecklimousine dort gleich vorgestellt. Warum, so die Logik, sollen moderne Marken eigene Fahrzeugs- und Standort-bezogene Dienste entwickeln, wenn Googles Milliarden-Publikum bereits Handy- und Fahrzeugdaten liefert, die 60 000 Android-Entwickler weltweit auswerten können? Die Antwort ist einfach: Die Autohersteller begeben sich ein für alle Mal in die Abhängigkeit der Android-Welt, in der alle Daten mitgelesen werden, wenn sich die Kunden einmal für die Services entschieden haben.

BMW sucht einen dritten Weg zwischen den beiden Extremen der Software-Unabhängigkeit einerseits und dem Offenbarungseid vor Google andererseits: "BMW wird nie Kundendaten weitergeben, damit wir das Infotainment-System billiger kriegen", sagte Christoph Grote kürzlich auf dem Elektronikkongress in Ludwigsburg. Keine Scheu zeigte der BMW-Bereichsleiter Elektrik/Elektronik allerdings davor, die frei verfügbaren Entwicklungswerkzeuge von Android Auto zu nutzen. "Wir brauchen Software-Standards, einheitliche Schnittstellen und Daten-Marktplätze für die globale Skalierbarkeit", so Grote. Eine exklusive Partnerschaft mit einem einzigen Cloud-Anbieter lehnte er dagegen ab, um nicht in einem digitalen System gefangen zu sein: Jedenfalls hätten die großen Internet-Konzerne die Automobilwelt mittlerweile entdeckt - nicht nur wegen des autonomen Fahrens. Kein Wunder, denn der Markt für Autosoftware soll sich einer McKinsey-Studie zufolge bis 2030 auf fast 75 Milliarden Euro verdreifachen. Wie weit die Fahrzeugbauer bis dahin ihre digitale Unabhängigkeit bewahren und selbst zu Tech-Unternehmen werden können, ist indes offen.

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SZ vom 03.08.2019/cku
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