Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung im Auto:Google auf dem Beifahrersitz

Die großen Tech-Firmen versuchen, mit ihren Sprachassistenten das Auto zu erobern. Je tiefer sie in das Fahrzeug eindringen, desto mehr Kundendaten müssen die Hersteller preisgeben.

Von Joachim Becker

Menschen, die mit Autos sprechen. Das ist ungefähr so mühsam, wie ein Pferd zu satteln. Jeder Gaul versteht besser, wo es hingehen soll, als ein Offline-Navigationssystem. Zumal das Tier die Sprachbefehle seines Reiters lernen kann. Noch immer werden Neuwagen mit Spatzenhirnen ausgeliefert, die dümmer sind als Toaster, Wanduhren oder Kühlschränke. Sie stammen aus einer Zeit, als Telefone noch Kabel hatten und Autos unvernetzte Blechbüchsen waren.

Gefühlte hundert Jahre später ist "Hey Alexa" zum Schlachtruf der digitalen Revolution geworden: Mehr als 20 000 verschiedene Haushaltsgeräte gehorchen dank des Sprachassistenten aufs Wort, die Konkurrenzprodukte von Google Home oder Apple HomePod nicht eingerechnet. Was mit dem PC begann und in der Hosentasche per Smartphone weiterging, wurde 2014 zum freihändigen Surfen in Küchen, Kinder- und Wohnzimmern. Im März dieses Jahres zählten Experten mehr als 30 000 Funktionen, die sich mit Alexa steuern lassen - intuitiver und präziser als fast jedes Auto. Deshalb will Amazon jetzt auch einen CarPod auf den Markt bringen; entsprechende Produkte von Alibaba, JD.com und Baidu gibt es bisher nur in China.

Eroberungsversuche des Autos per (Smartphone)-Apps von Android Auto oder Apple Carplay waren bislang wenig erfolgreich. Google Maps ist zwar immer noch das beste Kleinprogramm, um in Echtzeit durch verstaute Städte zu navigieren. Beliebt sind auch Onlineradios, doch die meisten Apps wirken auf dem Zentralbildschirm im Fahrzeug dröge oder sind gar nicht zugelassen, weil sie den Fahrer zu sehr ablenken könnten.

Richtig nützlich wäre ein Sprachassistent, der nicht nur mit den Passagieren, sondern auch mit der Fahrzeugtechnik kommuniziert: Mit der Klimatisierung und dem Licht im Innenraum oder mit dem Discjockey, dem Telefon und dem Navigationssystem. In der neuen Mercedes A-Klasse ist die natürlichsprachliche Vernetzung weit gediehen: Sobald das Wort Mercedes ausgesprochen wird, meldet sich die Assistentin zum Dienst. Während das alte Command-System Einwürfe noch ignorierte und vom genervten Fahrer feste Eingaben forderte, versteht die neue Linguatronic die Frage "Scheint die Sonne morgen in Hamburg?" genauso gut wie "Wird das Wetter morgen schön?" Auch die Antworten sind abwechslungsreicher, als man es von Maschinen gewohnt ist.

"Wir können nicht alles selbst erfinden"

"Innovation und Partnerschaften sind der Schlüssel zur Digitalisierung", sagt Sajjad Khan, der die Elektronikentwicklung bei Daimler leitet: "Wir können nicht alles selbst erfinden, aber wir müssen auch nicht alles weggeben." Damit meint er die Kundenschnittstelle, die Daten aus dem Fahrzeug und die darauf aufbauenden Geschäftsmodelle, von denen sich die Autohersteller eine neue Einkommensquelle versprechen. "Trotzdem wollen wir nicht die Elektronikkomponenten neu erfinden, die es schon auf dem Markt gibt", erläuterte Khan auf dem Elektronikkongress 2018 in Ludwigsburg. Um die MBUX (Mercedes-Benz User Experience, englisch für Nutzererlebnis) in nur zweieinhalb Jahren zur Serienreife zu bringen, hat Daimler unter anderem Hochleistungs-Chips von Nvidia integriert, die brillante 3D-Grafiken in Echtzeit berechnen. Neue Bilder und Funktionen können jederzeit per Update über die Luftschnittstelle nachgereicht werden.

Vernetzung ist auch bei der Linguatronic der Schlüssel zum Erfolg: Harman, der Spezialist für Infotainmentsysteme, und der Sprachexperte Nuance verarbeiten Wortmeldungen sowohl an Bord als auch per Server in der Cloud. Wo Großrechner die Daten mit dem Wissensvorrat des gesamten Internets vergleichen können, lässt sich trefflich über den Sinn des Lebens streiten. Mit freien Fragen und schlagfertigen Antworten will BMW im neuen 3er ab dem nächsten Jahr punkten.

Bleibt abzuwarten, wie viel von der neuen Diskutierfreude übrig bleibt, wenn während der Fahrt keine Onlineverbindung mehr verfügbar ist. Anders als die Sprachassistenten der Techkonzerne sollen die hybriden Systeme der Autohersteller auch in Funklöchern weiter funktionieren. Zum Beispiel auf Zuruf die Komforteinstellungen im Auto ändern. Außerdem sollen sich die intelligenten Assistenten mit den Vorlieben ihrer Passagiere genauso gut auskennen wie mit den technischen Details im Fahrzeug. Das ist nützlich, wenn man bei Warnhinweisen im Cockpit nicht in der Betriebsanleitung nachschlagen will.

Bislang waren diese Tiefen der Fahrzeugtechnik für Externe tabu. Jetzt will Google genau dorthin vordringen. Im Vorfeld der Pariser Automesse hat die Allianz aus Renault, Nissan und Mitsubishi im September eine vertiefte Kooperation mit den Kaliforniern bekannt gegeben. Ab 2021 sollen alle neuen Modelle der Franco-Japaner mit einem intelligenten Infotainmentsystem ausgestattet werden, das neben Google Maps, dem Google Assistenten und dem Google Play Store auch eine ganze Palette neuer Dienste bietet. Die Software-Basis bildet Android Auto - ein Linux-Betriebssystem ähnlich wie Android, das auf 80 Prozent aller Mobiltelefone läuft.

"Diese Partnerschaft ist qualitativ neu", sagt Gabriel Seiberth, Studienleiter der Unternehmensberatung Accenture Digital: "Bisher hat die Autoindustrie immer gesagt: Man darf die Kundenschnittstelle und Fahrzeugdaten nicht aus der Hand geben. Das ist der Sündenfall, das gilt es auf jeden Fall zu vermeiden." Aus Angst vor einem Daten-Monopolisten wie Google haben die deutschen Autohersteller 2015 den Kartendienstler Here gemeinsam übernommen.

"Die Frage war: Schafft man es, Apple und Google aus dem Auto herauszuhalten? Durch das sogenannte Mirroring, also das Spiegeln von Smartphone-Apps ins Auto, hat man sie ganz erfolgreich domestiziert", erklärt Seiberth. Google würde nun nicht mehr so großspurig gegenüber den Autoherstellern auftreten. Gleichzeitig wollten die Kalifornier im Fahrzeug unbedingt Gas geben, weil Amazon bei Sprachassistenten im Haushalt die Nase vorn habe. Experten gehen deshalb davon aus, dass Google seine Android-Auto-Dienste auf Basis einer günstigen Transaktionsgebühr zur Verfügung stellt. Das ist ein attraktiver Köder für Volumenhersteller, die in einem erbitterten Preiswettbewerb stehen. "Trotzdem gibt die Allianz natürlich die Kundenschnittstelle aus der Hand und damit die Geschäftsmodelle, die hinter den Daten liegen - und letztlich auch die Machtposition", so Seiberth.

Renault, Nissan und Mitsubishi liefern jährlich mehr als zehn Millionen Fahrzeuge in über 200 Märkten aus. Das ist eine Dimension, die auch für IT-Riesen interessant wird. Mit einem führenden Betriebssystem von Google und den dazugehörigen Entwicklungswerkzeugen kann die Allianz viel Geld sparen - und zugleich modernste Unterhaltungselektronik zum günstigen Preis anbieten. Ein echter Wettbewerbsvorteil dürfte die breite Basis von Nutzerdaten aus den Fahrzeugen sein, die alle digitalen Dienste verbessern. Gerade jüngere Autokäufer, die sich für Vernetzungsdienste interessieren und Android vom eigenen Smartphone kennen, dürften kaum in der Lage sein, mindestens 35 000 Euro für die günstigste Mercedes A-Klasse mit MBUX auszugeben.

Google will neue Standards in der Autobranche setzen

Absehbar wird Google weitere Kooperationspartner suchen, um Standards in der Autobranche zu setzen. Nicht nur MBUX basiert auf dem freien Quellcode Linux, den auch Android nutzt. Auch BMW, FiatChrysler und andere experimentieren mit Android Auto als Betriebssystem. BMW-Digitalchef Dieter May versucht das gar nicht zu leugnen, sondern betont im Gespräch, dass es bei allen digitalen Geschäftsmodellen um die Skalierungsmöglichkeiten gehe: "Wenn wir viele Softwarestände der unterschiedlichen Infotainment-Varianten und -generationen pflegen müssen, kommen wir nie auf wettbewerbsfähige Nutzerzahlen für das jeweilige System!" Insellösungen, die sich dem rasend schnellen digitalen Mainstream verwehren, verlieren schnell den Anschluss.

Das gilt nicht nur für die visuelle Qualität der Anzeigen, sondern erst Recht für Sprachassistenten, die sich dank künstlicher Intelligenz schnell weiterentwickeln. Andererseits hat BMW immer wieder klar gemacht, dass man Android nicht ungefiltert ins Auto lasse. Die Kunst wird also sein, Googles Datenhunger zu zähmen und als bevorzugter Partner gleichzeitig von allen Vorteilen zu profitieren. Ob das funktioniert?

Kapitulieren wollen die deutschen Autohersteller vor der IT-Industrie nicht, dafür ist ihren Kunden die Privatsphäre und Datenhoheit zu wichtig. Sajjad Khan spricht von "collaborate & compete" (zusammenarbeiten und konkurrieren): "Wir brauchen diese Partnerschaften", betonte der Experte in Ludwigsburg: "aber man braucht sich bei der Digitalisierung auch nicht in die Hose zu machen."

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Quelle:
SZ vom 03.11.2018/mike
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