Crossrail in London:Europas größte Baustelle

Work Continues On The Crossrail Railway Project

Das Megaprojekt Crossrail soll 2018 fertig sein.

(Foto: Getty Images)

Megabaustellen für Verkehrsprojekte sind den Deutschen verhasst. In London sind die umfangreichen Bauarbeiten für Crossrail hoch willkommen. Denn das neue Zugnetz soll den absehbaren Verkehrskollaps verhindern.

Von Steve Przybilla

Es herrscht ein strenges Regiment in den Katakomben von London. Um in die Tiefe zu gelangen, müssen Arbeiter mehrere Schleusen passieren. Ein Sicherheitsbeauftragter kontrolliert die Kleiderordnung: Helm, Handschuhe, Leuchtkleidung, Schutzbrille, Ohropax, Arbeitsstiefel - nur wer alles korrekt angelegt hat, darf in den Untergrund. Über Stahltreppen und Leitern geht es hinab, der Boden ist glitschig, ein Geruch nach Beton und Erde liegt in der Luft. Dann wird es dunkel. Und feucht.

20 Meter unter der Oberfläche, direkt neben der bestehenden Paddington Station, entsteht derzeit ein komplett neuer Bahnhof. Der neue Haltepunkt ist Teil eines noch viel umfassenderen Projektes, das die chronisch verstopften Verkehrsadern der britischen Hauptstadt entlasten soll. Die Rede ist von Crossrail, der größten Baustelle Europas.

Unverzichtbare Hustenbonbons

Über 10 000 Arbeiter sind derzeit damit beschäftigt, eine 118 Kilometer lange Eisenbahnstrecke vom Umland quer durch die Metropole zu bauen, inklusive zehn neuer Bahnhöfe. Ein Drittel davon verläuft unterirdisch, vorbei an bereits existierenden U-Bahn-Röhren, Kanalrohren und Stromleitungen. Wenn die Arbeiten im Jahre 2018 abgeschlossen sind, so das Versprechen -, wird das Schienennetz um bis zu zehn Prozent entlastet.

Bis dahin hat Peter Jarman noch jede Menge Arbeit vor sich. Der Mittvierziger ist Bauleiter im Abschnitt Paddington Station. Er trägt einen Stoppelbart und kaut ununterbrochen Hustenbonbons. "Das muss man hier unten, um nicht krank zu werden", so der Bauleiter. "Ich habe hier schon als Kind gespielt. Heute kenne ich Tunnel, die nicht mal in den Plänen verzeichnet sind."

"Operation am städtischen Herzen"

Das Wissen dürfte nützlich sein, denn die Bagger graben in unmittelbarer Nähe von denkmalgeschützten Gebäuden. Damit diese nicht absinken - auch das ist schon passiert -, hängen lasergestützte Messgeräte an ihren Fassaden. "Sobald sich eine Wand neigt, füllen wir den Boden von unten auf", erklärt Jarman.

Seit fünf Jahren wird im gesamten Stadtgebiet gebaggert, geschweißt, gehämmert und gebohrt. Erstaunlicherweise bekommen die 8,6 Millionen Einwohner davon kaum etwas mit - obwohl es direkt unter ihren Füßen geschieht. Selbst heikle Momente gingen glimpflich aus. Zum Beispiel der Röhrenbau an der Tottenham Court Road. Weniger als 60 Zentimeter mussten die Bohrmaschinen an der bestehenden U-Bahn-Station vorbeimanövrieren. "Eine Operation am städtischen Herzen", jubelte das BBC-Fernsehen, während so mancher Bauplaner ins Schwitzen geriet. Vom Wasserrohrbruch bis zum Deckeneinsturz schien alles möglich. Aber die Station sperren? Das hätte zur Rush Hour den Verkehrsinfarkt bedeutet. Also ließen es die Crossrail-Planer darauf ankommen - am Ende ging alles gut.

Das britische Stuttgart 21

Crossrail: Liverpool Street Station in London.

So soll 2018 der Eingang zur Liverpool Street Station in London aussehen.

(Foto: AFP)

Überhaupt ertragen die Einwohner das Mega-Projekt mit stoischer Gelassenheit. Immerhin ist Crossrail so etwas wie das britische Stuttgart 21, nur ohne Sitzblockaden und Massenproteste. Die Baukosten belaufen sich nach offiziellen Angaben auf knapp 15 Milliarden Pfund (ca. 20,8 Milliarden Euro) - Geld, das der strukturschwache Norden des Königreichs gut gebrauchen könnte. Anders als in Deutschland ist der Aufschrei deswegen allerdings ausgeblieben. Ian Birch, Projektplaner beim Verkehrsbetrieb "Transport for London", erklärt die Sache so: "Wir konkurrieren nicht mit Manchester oder Birmingham, sondern mit der ganzen Welt."

Wenn London abgehängt würde, mahnt Birch, hätte dies katastrophale Auswirkungen auf das ganze Land. Hinzu kommt, dass das britische Verkehrsnetz seit jeher zentral auf die Hauptstadt ausgerichtet ist. Sämtliche großen Autobahnen und wichtigen Zugverbindungen enden in der boomenden Metropole, deren Bevölkerung in spätestens 15 Jahren auf bis zu zehn Millionen anwachsen wird. "Das Zentrum steht absolut im Fokus", sagt Birch, weshalb es dort gleich mehrere große Stationen gebe. Mit Crossrail entstehe nun eine Parallelstrecke, die "ordentlich Druck aus dem Kessel nimmt".

Derzeit platzt die "Tube" aus allen Nähten

Doch solche Argumente sind meist gar nicht nötig, um die Bevölkerung von Crossrail zu überzeugen. Dass die "Tube" aus allen Nähten platzt, merkt schließlich jeder, der im Berufsverkehr unterwegs ist. Über 150 Jahre haben die ältesten U-Bahn-Stationen auf dem Buckel, ihre Kapazitäten sind ausgeschöpft - und London wächst rasant weiter. Die Verkehrsbetriebe versuchen das Gedränge abzumildern, indem Fahrkarten außerhalb der Rush Hour günstiger sind - mit mäßigem Erfolg. Die meisten Pendler, die pünktlich zur Arbeit erscheinen müssen, ärgern sich eher doppelt, weil die Züge voll sind und sie trotzdem mehr bezahlen müssen. Dass dringend Abhilfe geschafft werden muss, ist zudem schon lange bekannt. Seit den Siebzigerjahren diskutieren britische Politiker über Crossrail.

Die neue Linie soll nun allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen zugutekommen. "Die ärmeren Außenbezirke profitieren, weil sie wesentlich besser an die City angeschlossen werden", sagt Birch. "Und Geschäftsleute kommen noch schneller zu ihren Arbeitsplätzen als bisher." Barbara Palmer, eine 67-jährige Rentnerin aus der Grafschaft Essex (nordöstlich von London), sieht sich ebenfalls als Profiteurin: "Mein Mann und ich sind ständig auf Reisen. Durch die neue Verbindung wird sich unsere Fahrt zum Flughafen Heathrow um die Hälfte verkürzen."

Teure Bahnen, noch teurere Straßen

Doch Rentner wie Palmer müssen sich über steigende Fahrpreise keine Gedanken machen. Sie nutzen ein kostenloses Sozialticket, den "Freedom Pass". Für alle anderen dürfte der Nahverkehr langfristig teurer werden. Schon heute kostet eine Monatskarte allein für die Innenstadt rund 170 Euro. Verkehrsplaner Birch sieht darin nichts Negatives: "Viele Leute denken, dass unsere Tarife zu hoch sind. Aber warum sollten Zugfahrer nicht das Angebot finanzieren, das sie nutzen?" Laut Transport for London pendeln 90 Prozent aller Arbeitnehmer per ÖPNV in die City. Die Fahrt per Auto wäre nicht nur umweltschädigender, sondern auch teurer. Seit die Innenstadt zur Umweltzone erklärt wurde, werden 16 Euro City-Maut fällig. Pro Tag.

Das London Transport Museum, das von den Verkehrsbetrieben geführt wird, rührt ebenfalls kräftig die Werbetrommel. Eine komplette Ausstellung ("Breakthrough") widmet sich Crossrail. Bilder der aus Deutschland stammenden Tunnelbohrmaschinen werden in Originalgröße an die Wand projiziert. Die 1000-Tonnen-Ungetüme graben pro Woche 100 Meter Erde um. Am Ende erfahren die Besucher, dass selbst Europas größte Baustelle nur ein Schritt von vielen anderen ist. Londons Bürgermeister Boris Johnson trommelt schon für Crossrail 2, das nächste rund 35 Milliarden Euro teure Projekt. Neue Prognosen der Verkehrsbetriebe gehen davon aus, dass spätestens 2030 das Passagieraufkommen höher sein wird als das Angebot - Crossrail schon eingerechnet.

Werden die Londoner also für immer mit überfüllten U-Bahnen leben müssen? Simon Murphy, Kurator im Transport-Museum, lacht: "Es wird zumindest nicht schlimmer."

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