Der Abend im hochsommerlichen Berlin war schon irgendwie außergewöhnlich. Nicht eine von diesen superteuren, hochmotorisierten Limousinen feierten die Schwaben vor wenigen Wochen im Tempodrom, sondern putzige Kleinwagen: Zwei Sitze hat der Smart, 2,66 Meter ist er kurz, erhältlich ab etwa 10 000 Euro. Und so richtig viel Kraft hat er auch nicht. Einige schwäbische Manager lassen sich nur kurz blicken, solche Wagen sind wohl doch unter ihrer Würde.
Manfred Bischoff aber, der Daimler-Aufsichtsratsvorsitzende - er ist von diesem Abend ziemlich angetan, wird bis spät in die Nacht bleiben. Er läuft langsam über die Bühne im Tempodrom, auf der Fotografen und Ingenieure herumwuseln. "Das schaut doch gut aus", sagt er, "wobei mir der in Blau-Weiß da drüben besser gefällt." In ganz jungen Jahren ist Bischoff mit einem kleinen Renault R4 gefahren, das ist schon mal interessant.
Nur: Wie passt so etwas zum Luxuswagen-Konzern Daimler? Na ja, meint der Aufsichtsratschef: Einerseits brauche man angesichts der immer strengeren Abgasnormen auch kleine, sparsame Fahrzeuge. Genauso wie man "intelligente Verkehrskonzepte" brauche. Mobilitätskonzepte? Dafür interessiert sich ein Manager, der dienstlich vor allem auf der A8 zwischen seinem Münchner Büro und der Konzernzentrale in Untertürkheim unterwegs ist, natürlich mit Chauffeur? Zur Antwort erzählt der freundliche Herr, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist, eine Anekdote.
Carsharing:Reisen im Teilzeit-Auto
Autos teilen statt besitzen - wer früher mitmachte, wollte vor allem Kosten und Emissionen reduzieren. Mittlerweile öffen sich für Carsharer mit intelligenten Kundenkarten in Europas Großstädten immer mehr Autotüren.
Hersteller müssen an Lösungen für Mobilitätstechniken mitarbeiten
Vor einiger Zeit versammelten sich Aufsichtsräte zu einer Sitzung in Peking, oder vielmehr: Sie wollten sich treffen. Doch steckte die Truppe im Stau. Stundenlang, obwohl die Autobahnringe in Peking zehn Spuren oder sogar mehr haben. Zu Fuß haben sie schließlich die Straße überquert und die letzte Strecke zurückgelegt. Als man sich dann mit dem Bürgermeister zusammensetzte, antwortete der auf die Frage, was die größte Herausforderung für ihn sei: "Growth!" Wachstum! Immer mehr Menschen kommen in die Stadt, immer mehr mit eigenem Wagen. "Dieser Tag hat uns deutlich die Augen geöffnet", sagt Bischof: "Auch wir als führender Hersteller in Mobilitätstechniken müssen an Lösungen mitarbeiten, gerade um den Verkehr in Großstädten in den Griff zu bekommen."
Es ist im Nachhinein schwer zu sagen, wann es genau passierte, aber irgendwann stellte sich Daimler-Chef Dieter Zetsche vor seine Leute und sagte zum ersten Mal, dass sich die Dinge grundlegend ändern würden. Dass der Konzern dabei sei, sich von einem Automobilhersteller zu einem Mobilitätsdienstleister zu wandeln. Ein starker Satz, denn es ist noch gar nicht so lange her, da feierte man in Stuttgart ein Jubiläum zur Erfindung des Autos samt den Urahnen Gottlieb Daimler und Carl Benz. Und jetzt das: Mobilitätsdienstleister.
Hauptsache, man hat etwas im Angebot
Es gab damals den einen oder anderen Manager bei der Konkurrenz, der sich darüber amüsierte. Heute amüsiert sich keiner mehr. Denn in den Vorstandsetagen hat sich herumgesprochen: Zumindest in Europa werden weniger Autos verkauft, weil junge Menschen auf andere Dinge Wert legen. Da aber auch die nicht den ganzen Tag auf dem Sofa hocken, sondern mobil sein wollen, muss man sie abholen. Wenn nicht mit dem Privatwagen, dann eben anders - mit Mietwagen, mit Carsharing-Angeboten, egal. Hauptsache, man hat etwas im Angebot.
In Ulm fing es an, Ende März 2009. Dort ging der Autobauer mit dem Stern mit seinem hauseigenen Carsharing-Dienst Car2go an den Start. Der Startschuss für das zweite Leben eines Autokonzerns als Mobilitätsdienstleister.
Drehkreuze der neuen Mobilität sind Smartphone-Apps, über die Kunden ihre Autos mieten, buchen, teilen. Zum Beispiel die Daimler-Plattform Moovel: Das Angebot empfiehlt dem Handy-Nutzer die beste Kombination aus allem. Carsharing, Elektrofahrrad, Bus, Bahn, Mitfahrgelegenheit und - ja, auch das - zehn Minuten Fußmarsch. Abgerechnet wird einmal, und zwar zentral, das Zauberwort heißt: intermodale Mobilität. Was bedeutet: Eine Reise muss nicht nur aus einer Zugfahrt oder einer Autofahrt bestehen - man kann sie auch aus verschiedenen Modulen kombinieren. Schnell, umweltfreundlich, günstig, vernetzt. Das ist insofern interessant, als dass in einem Autokonzern traditionsgemäß Autos das Maß aller Dinge sind. Jetzt ist es nur noch ein Ding unter vielen. Die neuen Rivalen sind nicht mehr die angestammten Wettbewerber aus dem Auto-Fach, sondern neue Dienstleister wie die Billigtaxi-Vermittlung Uber.
Lange war Moovel eine belächelte Bastelstube. Wurde zwar vom Vorstand protegiert, aber hatte noch nicht einmal eigene Büroräume. Die Mitarbeiter suchten sich immer wieder irgendwo ein Plätzchen. Das wandelt sich gerade. Mit Aufsichtsratschef Bischoff als Vordenker und dem Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche als Antreiber. "Wir sind keine blindwütigen Lobbyisten, die jeden verteufeln, der kein Auto fährt", sagte dieser neulich. Viel eher sei Daimler Advokat für den Erhalt der individuellen Mobilität. "Zu der gehört das Automobil, aber dazu zählen auch andere Fortbewegungsmittel."
Es ist ein Kulturwandel. Mit dem Daimler natürlich auch Geld verdienen will. 120 Milliarden Euro im Jahr setzt der Konzern derzeit um, nur 100 Millionen Euro steuern Moovel und Car2go bei. zu. Portokasse, vergleichsweise. Aber die Umsatzmilliarde ist im Blick, im Jahr 2020 soll es so weit sein. Dass das Geschäftsfeld nicht so profitabel ist wie der Verkauf einer Oberklasse-Limousine, weiß man in Stuttgart. Aber: Die Schwaben fahren bei der Mobilität von morgen vorne mit, und auch darum geht es zurzeit: Wenn sie das Geschäft nicht machen, dann machen es andere - zum Beispiel die Apples und Googles dieser Welt.
Dieses Geschäft mag derzeit noch nicht besonders profitabel sein, aber es hat Zukunft. Anfang 2014 waren nach Auswertungen des Bundesverbands CarSharing an die 750 000 Menschen als Carsharing-Nutzer unterwegs - Tendenz stark steigend: Eine Studie der Beraterfirma Roland Berger kam in diesen Tagen zu dem Ergebnis, dass der Carsharing-Markt um rund 30 Prozent im Jahr wächst. Die Konzerne wittern hier also das große Geschäft.
Weniger Autos an Straßenrändern, weniger Emissionen
Neben Daimler gehört BMW mit seinem gemeinsam mit Sixt angebotenen "Drive Now" zu den Großen der Branche. Auf einen Drive-Now-Wagen sollen im Schnitt an die 70 Nutzer kommen. 70 Nutzer, die sonst womöglich 70 Autos besitzen würden, die dann die meiste Zeit ungenutzt in der Gegend herumstehen würden. Das heißt: Weniger Autos an Straßenrändern und auf Bürgersteigen, weniger Emissionen. Drive Now ist zurzeit in fünf deutschen Städten und in San Francisco am Start. Jetzt wollen die Münchner weiter expandieren; weitere Städte in Europa und den USA will man versorgen. Außerdem haben die Münchner eine Kooperation mit dem Fernbusunternehmen MeinFernbus - es geht um Rabatte, um Freiminuten und um die Verzahnung von lokalem Autofahren und Fernbus-Strecken. Und es geht weiter: BMW hat eigens den Kapitalgeber iVentures ins Leben gerufen; das in New York ansässige Unternehmen soll weitere strategische Beteiligungen und Kooperationspartner aus der Branche ausloten.
Und auch Opel will mitmischen beim großen Autoteilen: Man arbeite an einem eigenen Carsharing-Angebot, sagte Opel-Marketingchefin Tina Müller kürzlich. Allmählich springen sie alle drauf auf das neue Geschäftsmodell.
Über das Teilzeitfahren Zugriff auf junge Menschen
Wichtig an den Konzepten der Autobauer: Sie sind flexibel, die Autos stehen überall und können fast überall abgestellt werden, nicht nur am Ursprungsort. Oder, in der Sprache der Macher: das Ganze ist "stationslos" organisiert, ein Konzept vor allem für den (groß-)städtischen Raum. Die Veranstalter haben dafür eigene Tarifsysteme entwickelt. Das Prinzip: einmalige Registrierungsgebühr, bezahlt wird danach pro Minute - mal ab 24 Cent, mal ab 31, Benzin inklusive. Die nächsten verfügbaren Autos finden die Kunden über Smartphone-Apps oder gleich auf der Internetseite des Anbieters; geöffnet wird das Auto mit einem Chip oder einer Kundenkarte.
Lange hatten Manager geglaubt, das Nebengeschäft würde ihnen auch noch die letzten Kunden verprellen. Genau das Gegenteil könnte aber der Fall sein, glauben viele nun. Über das Teilzeitfahren bekommen die Hersteller Zugriff auf junge Menschen, die heute vielleicht noch als Autokunden ausfallen. "Wir können diejenigen, die ihr Geld heute lieber in andere Dinge investieren, schon mal anfixen", sagt einer aus der Branche. In einigen Jahren dann kämen diese jungen Nutzer auch als Käufer infrage. Wenn nicht, dann hat man sie zumindest als Carsharing-Kunden. Immerhin.