Süddeutsche Zeitung

Carsharing:Raus aus dem Bus, rein ins geteilte Auto

Viele Menschen haben Angst davor, sich im öffentlichen Nahverkehr anzustecken - und wechseln zu Carsharing-Anbietern. Eine Art davon wächst besonders kräftig.

Von Marco Völklein

In Berlin sind die 1500 Elektrofahrzeuge der VW-Tochter Weshare seit Sommer 2019 im Stadtbild präsent, vor wenigen Tagen ging der Konzern mit seinem Carsharing-Angebot in Hamburg an den Start. Zunächst sollen 400 vollelektrische Fahrzeuge des Modells ID.3 bereitstehen, von April an sollen daraus 800 werden. Weshare sei in der Hansestadt der erste vollelektrische Carsharing-Anbieter, sagte zum Start Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne). "Damit setzt sich die Antriebswende", gemeint ist der Umstieg von Verbrennermotoren auf solche mit Elektroantrieb, "auch bei Carsharing mit Wucht fort."

Aber ist das tatsächlich so? Aus Sicht des Branchenverbands BCS sind "die deutschen Carsharing-Anbieter Vorreiter bei der Umstellung auf emissionsfreie Antriebe", wie es in einer Mitteilung heißt. Erst in der vorvergangenen Woche hatte der Verband seine Jahresbilanz für 2020 vorgestellt. Den Angaben zufolge lag zum Stichtag 1. Januar 2021 der Anteil der batterieelektrischen Fahrzeuge und Plug-in-Hybride an der deutschen Carsharing-Flotte bei 18,5 Prozent, in der nationalen Pkw-Flotte betrug der Wert zuletzt laut BCS lediglich 1,2 Prozent. Um den Anteil weiter zu steigern, fordert Verbandsgeschäftsführer Gunnar Nehrke einen "multimodalen Zuschuss" für Menschen, die sich zum Beispiel für einen Mobilitätsmix aus Carsharing, Fahrrad, Zufußgehen und öffentlichem Nahverkehr entscheiden - und ganz bewusst aufs Auto verzichten. "Die Bundesregierung war schnell darin, den privaten E-Auto-Besitz zu fördern", sagt Nehrke. Etwas ähnliches für Leute, die kein Auto haben, wäre aus seiner Sicht wünschenswert.

Angst vor Schmierinfektionen

Aber auch ohne staatliche Unterstützung verzeichnete die Branche im Jahr 2020 erneut ein starkes Wachstum - trotz oder gerade wegen der Corona-Pandemie, das kommt auf die Sichtweise an. Als im Frühjahr 2020 die Bundesregierung das Land in den ersten Lockdown schickte, registrierten die Anbieter zunächst einen rapiden Rückgang bei den Nutzungszahlen. "Vor allem im März und im April 2020 hatten wir einen deutlichen Rückgang der Buchungen und der Auslastung der Fahrzeuge", sagt BCS-Geschäftsführer Gunnar Nehrke. Einige Anbieter hätten damals Rückgänge von bis zu 80 Prozent verzeichnet. Genaue Buchungs- oder Umsatzzahlen nannte der Verband indes nicht.

Die Zurückhaltung damals "hing auch damit zusammen, dass man zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wie hoch das Risiko für Schmierinfektionen ist", sagt Nehrke. Inzwischen sei klar, dass sich das Virus vor allem über Aerosole verbreite und weniger über Flächen. Die Nachfrage legte daher seit Sommer wieder deutlich zu, auch weil viele Kunden die Carsharing-Fahrzeuge genutzt hätten, "um mal wieder rauszukommen", so Nehrke. Vor allem die Zahl kürzerer Fahrten sei deutlich gestiegen.

Aber auch die Zahl der Nutzer insgesamt wuchs: Laut BCS waren im Jahr 2020 etwa 2,9 Millionen Menschen bei den Anbietern registriert, rund ein Viertel mehr als 2019. Allerdings sind darin auch Mehrfachanmeldungen enthalten - Nutzer also, die bei mehreren Diensten gleichzeitig angemeldet sind.

Zudem haben von dem Wachstum fast ausschließlich solche Anbieter profitiert, die sogenannte Freefloat-Modelle betreiben - das sind Modelle, bei denen die Fahrzeuge frei im Stadtraum abgestellt werden können. Der Nutzer muss eine Smartphone-App auf sein Handy laden; über diese erfolgt die Buchung und Rückgabe der Fahrzeuge. Die VW-Tochter Weshare oder auch der Anbieter Share Now, ein Gemeinschaftsunternehmen von Daimler und BMW, betreiben solche Modelle. Seit Kurzem auch das Start-up Miles.

Bei diesen Anbietern wuchs die Kundenzahl um mehr als 36 Prozent auf 2,1 Millionen Kunden, deren Gesamtflotte stieg um sechs Prozent auf 14 200 Fahrzeuge. Die stationsbasierten Carsharing-Anbieter hingegen, bei denen die Fahrzeuge an einem bestimmten Ort abgeholt und dort auch wieder abgestellt werden, konnten die Kundenzahl nur um zwei Prozent auf 724 000 Nutzer steigern. Sie betreiben eine Flotte von etwas mehr als 12 000 Fahrzeugen.

Wachsende Konkurrenz zu Bussen und Bahnen?

Viele dieser Anbieter gehen auf die Zeit der 1980er-Jahre zurück; damals traten Genossenschaften oder gemeinnützige Firmen an, um den privaten Autobesitz zu reduzieren und den Straßenverkehr zu entlasten. Inzwischen mischen laut BCS 230 Unternehmen auf dem Markt mit, sie sind in 855 Städten und Gemeinden aktiv. Zuletzt haben aber auch in immer mehr Städten stationsbasierte Anbieter ihr Angebot erweitert - und offerieren nun zumindest einen Teil ihrer Flotte in einem Freefloating-Konzept. Der BCS spricht dann von "kombinierten Carsharing-Systemen".

Die reinen Freefloating-Anbieter indes sind bisher in nur 15 deutschen Städten aktiv - und sie konzentrieren sich besonders auf die Innenstadtbereiche. Kritiker werfen diesen Anbietern vor, vor allem Ersatzangebote zum öffentlichen Personennahverkehr, kurz: ÖPNV, zu schaffen. Die Unternehmen selbst sehen sich dagegen in der Regel als Ergänzung zum ÖPNV.

BCS-Geschäftsführer Nehrke glaubt, dass tatsächlich in Folge der Pandemie viele ÖPNV-Nutzer sich wegorientiert haben könnten von Bussen und Bahnen, und hin zu den Carsharing-Angeboten. Die Leute fühlten sich im Auto schlicht sicherer als im ÖPNV, wenngleich die Anbieter von Bussen und Bahnen stets betonen, dass es keine Studien über eine höhere Infektionsgefahr im ÖPNV gebe. Auch Nehrke glaubt, dass "es sich um keinen grundsätzlichen Angriff auf den ÖPNV handelt". Sollte die Pandemie irgendwann einmal überwunden sein, könnten die Kunden auch wieder zurückkehren in die Busse und Bahnen - zumal insbesondere das Freefloating-Carsharing nicht gerade besonders preisgünstig ist.

Das Ziel heißt: Wachstum

In Hamburg indes gibt die VW-Tochter Weshare nun erst einmal Gas. Das Geschäftsgebiet, in dem die Fahrzeuge per App angemietet werden können, umfasst etwa 100 Quadratkilometer, es erstreckt sich von Osdorf im Westen bis Billstedt im Osten und von Fuhlsbüttel im Norden bis zur Elbe im Süden. Die Strategie ist klar auf Wachstum ausgerichtet: Bis Jahresende peilt Weshare-Chef Philipp Reth in Berlin eine Kundenzahl von 150 000 an (aktuell sind es etwas mehr als 100 000), in Hamburg sollen es bis dahin 50 000 Nutzer werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5216526
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.