Süddeutsche Zeitung

Carsharing:500 Meter bis zum nächsten Fahrzeug

Die Zeiten, in denen sich beim Carsharing nur umweltbewusste Sparbrötchen in Reservierungshefte eintrugen, sind vorbei. Heute gibt es Flexibilität und Fahrspaß auch ohne eigenen Pkw. Doch Carsharing ist nur ein Mobilitätsbaustein. Jetzt geht es um die Vernetzung der Verkehrsmittel.

Von Joachim Becker

Die Zukunft des Autos hat gerade erst begonnen - schon weil der Verkehrskollaps absehbar ist. Bis 2020 werden 1,2 Milliarden Personenwagen auf unserem Planeten unterwegs sein, mehr als 60 Prozent davon in den Städten. Die Blechlawine blockiert nicht nur die Straßen, sondern begräbt auch die raren Parkplätze unter sich. Privatfahrzeuge stehen im Schnitt 23 Stunden pro Tag nutzlos herum. Angesichts des kollektiven Autowahns hilft letztlich nur eine kollektive Nutzung des Fahrzeugbestands in den Innenstädten. Ein geteiltes Fahrzeug ersetzt acht bis zehn Privatwagen, hat die Unternehmensberatung Frost & Sullivan ermittelt. Doch der Gang zur Vermietstation für eine Kurzstreckenfahrt stößt auf wenig Gegenliebe: zu umständlich und unbequem, von Fahrspaß gar nicht zu reden.

Autos teilen statt besitzen - wer früh mitmachte, wollte vor allem Kosten und Emissionen reduzieren: 1948 wurde die erste Selbstfahrergenossenschaft in Zürich gegründet. Selbst Jahrzehnte später mussten Fahrtenwünsche noch im Voraus in Reservierungshefte eingetragen werden. Viele Mietclubs haben ihre Wurzeln in der autokritischen Umweltbewegung. Tatsächlich reduziert Carsharing die Pkw-Kilometer um rund ein Drittel.

Die Nutzer sind im Schnitt um fast 50 Prozent häufiger in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und radeln öfter durch die Stadt. Wer sein Auto als Ausdruck der Persönlichkeit versteht oder auf den Prestigewert achtet, kann mit den rollenden Sparbüchsen wenig anfangen. "Unsere Kunden wollen ein Auto nicht nur nutzen, sie wollen es auch besitzen", erklärt Audi-Chef Rupert Stadler deshalb kategorisch, "ich bin nicht der Meinung, dass in zwei, drei Jahren alle Welt mit der Kreditkarte kleine Autos auf Leihbasis nutzt. Das wird so nicht massenhaft funktionieren."

Carsharing hat sich mehr als verdoppelt

Tatsächlich teilten sich 2010 lediglich 190.000 Bundesbürger Leihfahrzeuge mit anderen. Verglichen mit 38 Millionen Privatautos in Deutschland waren die 5000 Carsharing-Pkw eine Mikro-Marktnische. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Marktlücke jedoch mehr als verdoppelt: 2012 nutzten bereits mehr als 453.000 Autofahrer in Deutschland die Carsharing-Angebote. Mobilität soll flexibel sein und Spaß machen, statt unnötig Geld zu kosten.

Deshalb hat sich die Spontanmiete in kürzester Zeit zum Insidertipp für Leute meist zwischen 30 und 40 Jahren entwickelt. Sie wollen das Fahrzeug jederzeit wieder stehen lassen, wenn sie ihr Ziel mit anderen Verkehrsmitteln schneller oder günstiger erreichen. Generell wenden sich junge Erwachsene, die Innenstädte als Lebensraum bevorzugen, vom eigenen Auto ab. 2009 waren nur noch sieben Prozent aller Neuwagenkäufer zwischen 18 und 29 Jahre alt - das Segment hat sich innerhalb von zehn Jahren halbiert.

Schon seit geraumer Zeit klingeln bei einigen Autoherstellern daher die Alarmglocken. Sie haben Angst, den Kontakt zu den Kunden von morgen zu verlieren: "Die Einstellung zum Auto wandelt sich. Viele junge Menschen sind als ,Digital Natives' aufgewachsen. Internet, Facebook und Twitter gehören für sie zum Alltag. Die Kunden von morgen müssen wir anders ansprechen und ihnen zusätzliche Angebote machen", bekannte BMW-Chef Norbert Reithofer schon vor zwei Jahren.

Willkommen zum Carsharing 2.0: Für Mitglieder mit einem Mikrochip auf dem Führerschein öffnen sich in den Metropolen eine Vielzahl von Autotüren. Modernste Technik macht den Gang zur Vermietstation genauso verzichtbar wie die Reservierung im Voraus. Im Durchschnitt soll jeder Mieter im Radius von höchstens 500 Meter das nächste verfügbare Fahrzeug finden. So weit läuft man häufig auch, wenn man mit dem eigenen Auto endlich einen Parkplatz gefunden hat.

"Wir haben Carsharing emotional faszinierend gemacht - ein Thema, das bis vor einiger Zeit fast ausschließlich rational diskutiert wurde", sagt Andreas Schaaf, Geschäftsführer von DriveNow. Der Mietclub von BMW und dem Autovermieter Sixt hat zwei Jahre nach dem Start mehr als 100.000 Nutzer in Deutschland. Daimler konnte Car2go seit Ende 2008 sogar zum größten Carsharing-Anbieter weltweit mit rund 300.000 Kunden aufbauen. Nach Peugeot und Citroën will nun auch Ford als Kooperationspartner der Bahn in den Bereich einsteigen: Bei den Händlern der Marke soll ein bundesweites Netz von Vermietstationen entstehen.

Das Festnetz für Ford2go ist auf den ersten Blick ein Rückschritt gegenüber den Möglichkeiten zur Spontanmiete eines BMW, Mini oder Smart. Bei diesen Carsharing-Angeboten funktioniert die Automiete verblüffend einfach: Freie Mietfahrzeuge per Smartphone-App im Stadtgebiet orten, beliebig lange fahren und das Auto dort abstellen, wo es einen freien Parkplatz gibt. Abgerechnet wird alternativ per Stundenpauschale oder minutengenau.

Das Fischschwarm-Prinzip

Das Ganze funktioniert wie ein Fischschwarm: Je mehr Carsharing-Autos im jeweiligen Geschäftsgebiet frei flottierend unterwegs sind, desto wahrscheinlicher wartet ein Stadtflitzer gleich in der Nähe. Die schöne neue Autowelt hat allerdings einen Haken: In Städten mit weniger als 500.000 Bewohnern rechnet sich der Aufwand für die Betreiber des Carsharing 2.0 bisher nicht. Die konventionellen stationsbasierten Angebote lassen sich dagegen auch in kleineren Städten halbwegs profitabel betreiben. Ende 2012 gab es die festen Abhol- und Rückgabestationen bereits an 343 Orten in Deutschland.

Ein geteilter Wagen kann erheblich Geld sparen: Laut der Unternehmensberatung Frost & Sullivan haben Carsharer rund 1700 Euro pro Jahr mehr in der Kasse als Autobesitzer. Gerade für Großstädter, die im Schnitt nur 9000 Kilometer pro Jahr fahren, rechnet sich der eigene Wagen nicht. Hinzu kommen die teils hohen Parkgebühren, die ja schon heute eine heimliche Citymaut darstellen. Bei der Spontanmiete ist die Parkgebühr genauso inklusive wie die Spritkosten, die Wartung und Reinigung der Fahrzeuge - komfortabler kann Autofahren kaum sein. Auch in den Stadtverwaltungen setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Automiete eine sinnvolle Ergänzung des öffentlichen Nahverkehrs sein kann. Je flexibler und komfortabler sich beides kombinieren lässt, desto eher sind Autobesitzer bereit, ihren Wagen abzugeben. Fast die Hälfte der autobesitzenden Carsharing-Neukunden hat den Wagen nach sieben Monaten im Mietclub abgeschafft - eine echte Entlastung für überfüllte Ballungsräume.

Dabei stehen wir erst am Anfang einer radikal neuen Form individueller Mobilität. Bereits Mitte des Jahrzehnts könnte jeder fünfte Neuwagen in Mietclubs ein Elektrofahrzeug sein, erwarten die Berater von Frost & Sullivan. Schon heute ordert Car2go mehr Stromer, als Smart liefern kann. Auch Renault wagt mit dem Elektro-Quad Twizy erste Vermietversuche beim Carsharing-Projekt Ruhrauto.

"Ernst zu nehmende Studien sagen 15 Millionen Nutzer weltweit für Carsharing bis 2020 voraus", betont Robert Henrich. Der Leiter der Daimler Mobility Services sieht auch den Mietwagenmarkt für längere Strecken vor einem radikalen Wandel: "In wenigen Jahren wird beim Automieten niemand mehr am Schalter stehen", so Henrich. Als Beispiel nennt er den Autovermieter Hertz, der in den USA eine Flotte von 350 000 Mietfahrzeugen mit Telematik-Einheiten ausrüstet. Damit können die Wagen einfach per Mikrochip auf dem Führerschein angemietet werden.

Einheitliches Buchungs- und Abrechnungssystem

Im nächsten Schritt geht es um die Vernetzung der verschiedenen Verkehrsmittel durch ein einheitliches Buchungs- und Abrechnungssystem: "Wir stehen vor einer Revolution. Wer es schafft, unterschiedlichste Mobilitätsangebote auf einem einzigen Internet-Marktplatz zu bündeln, der kann ein Milliardengeschäft generieren", so Henrich. Daimler will die Mobilitätsplattform Moovel nach der Pilotphase in Stuttgart und Berlin zügig ausbauen: Mit einer Smartphone-App lassen sich Car2go, Taxi, Mitfahrgelegenheiten oder öffentliche Verkehrsmittel hinsichtlich Fahrtdauer und Kosten miteinander vergleichen. Künftig soll man die bevorzugte Variante sofort buchen und bezahlen können.

Neue Mobilitätsvisionen sind gefragt, wenn das Auto eine urbane Zukunft haben soll. Wenn bis 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen, werden wohl nur noch die wenigsten mit dem eigenen Auto durch die City fahren.

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Quelle:
SZ vom 06.04.2013/goro/bavo
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