Bugatti Chiron im Fahrbericht:Wie es sich anfühlt, wenn 1500 PS beschleunigen

Der neue Bugatti Chiron.

Wer den Bugatti Chiron ausfahren möchte, sollte das am besten auf abgesperrten Highspeed-Ovalen tun - wenn überhaupt.

(Foto: Bugatti Automobiles S.A.S.)

Der Bugatti Chiron fährt maximal 420 km/h und kostet fast drei Millionen Euro. Eine Fahrt in einem Auto, das mit nichts vergleichbar ist - und noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Von Georg Kacher

In der Morgensonne von Lissabon räkelt sich ein frisch gewienertes Nobel-Coupé: über zwei Meter breit, fast so flach wie ein Formel-1-Rennwagen, der mittig eingebaute 16-Zylinder-Motor eine nur notdürftig überdachte Skulptur, rote Rennbremsen hinter glanzschwarzen Rädern, die von Luftauslässen perforierte Heckpartie umhüllt von dunkelgrauem Sichtkarbon.

Stimmt, andere Hyper-Sportwagen sehen noch verrückter, noch verruchter aus. Vor der portugiesischen Idylle sieht der Bugatti Chiron trotzdem aus, als sei er nicht von dieser Welt. Er posiert im körpernah geschnittenen Maßanzug mit emailliertem Einstecktuch im Hufeisengrill und einer Luftbremse, die - wenn es drauf ankommt - mit Verve in die Vertikale schnellt und dort verharrt wie ein aufgestellter Mantelkragen aus Kohlefaser. Als Hommage an die früheren Kreationen des Ettore Bugatti haben die Designer dem Gran Tourisme einen markanten Mittelscheitel gezogen, der als sorgfältig modellierte Stehnaht die Wagenhälften eint.

Das dritte Leben der Marke Bugatti verdanken wir Ferdinand Piëch. Der ehemalige Konzernchef hat sich mit dem Vorgänger, dem Veyron, einen Traum erfüllt, der jetzt im Chiron weiterlebt, geschaffen nach des Meisters rigorosen Vorgaben: superschmale Fugen, millimetergenaue Passungen, beste Materialien, höchste Qualität. Und, natürlich, Leistung satt. Acht Liter Hubraum, 16 Zylinder und insgesamt vier Turbolader schaffen mit 1500 PS und maximal 1600 Newtonmetern einen neuen Superlativ, der bisher mit Leichtflugzeugen und Motoryachten assoziiert wurde.

Mit seinem Allradantrieb kann der Chiron in weniger als 2,5 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h beschleunigen. Nach nur 6,5 Sekunden passiert er die 200er-Marke. Etwa sieben Sekunden später ist dieses Auto 300 km/h schnell. Wo einem Porsche 911 GT3 oder einem Lamborghini Aventador die Luft ausgeht, atmet der Chiron noch zwei- oder dreimal durch. Bis Tempo 380 funktioniert das im Autobahn-Modus, doch für die letzten 40 km/h bis zur Höchstgeschwindigkeit von 420 km/h muss das Gerät mit einem speziellen Schlüssel scharf gestellt werden. Jetzt schmiegt sich der Wagen noch näher an den Asphalt, macht sich der Heckflügel besonders klein, legt dieser Tempo-Weltrekordler bildlich gesprochen die Ohren an.

Die Tachoskala reicht bis 500 km/h

Aber soweit ist es noch nicht. Während Andy Wallace, der drahtige Le Mans-Sieger von 1988, das Auto mit leichter Hand durch den Sonntagmorgenverkehr steuert, kann der Beifahrer den Innenraum in Augenschein nehmen. Es gibt mehr Platz als im Veyron, das Interieur ist noch edler, die schmale Mittelkonsole klettert vom Automatik-Wählhebel über vier mehrfach belegbare Drehregler hoch zur Instrumententafel. In den Anzeigen findet sich jetzt ein Display, das jedem halbwegs ängstlichen Passagier den Schneid abkauft. Der Digital-Ticker wird später an diesem Tag eine Höchstgeschwindigkeit von 362 km/h, eine abgerufene Leistung von 1502 PS und eine maximale Querbeschleunigung auf Rennwagen-Niveau registrieren.

Über das Lenkrad werden unter anderem der Startknopf für den Motor und der Fahrmodi-Wählschalter betätigt. Es gibt vier Positionen: EB (Normalstellung), Autobahn (abgesenkter Aufbau, mehr Anpressdruck), Handling (inklusive Drift-Funktion) und Lift (entschärft Bordsteine und Temposchwellen). Zeit für einen Fahrerwechsel.

Das Aus- und Einsteigen will geübt sein, und mit dem vorwitzig in die Pedalhöhle ragenden Radkasten muss sich der von nun an arbeitslose linke Fuß erst einmal arrangieren. Die schlankeren A-Säulen verbessern zwar in Vergleich zum Veyron die Sicht nach vorne, doch nach schräg hinten fängt wie bisher ein toter Winkel die Blicke. Das Lenkrad will Taste für Taste haptisch erkundet werden, die Skala des Analogtachos reicht bis 500 km/h, die kleinen Bildschirme links und rechts verglühen bei hohem Tempo zu Makulatur. Warum gibt es weder ein Head-Up-Display noch nennenswerte Assistenzsysteme? "Weil der Chiron eine puristische Fahrmaschine ist, die volle Konzentration erfordert und verdient", antwortet Wolfgang Dürheimer, der innerhalb des VW-Konzerns neben Bentley auch für die Marke Bugatti verantwortlich ist.

Die Beschleunigung könnte phänomenaler kaum sein

Stimmt. Der Blick nach vorne ist in diesem Mega-Cruiser eine auf das Asphaltband fixierte Mischung aus Zoom und Scanner, die gelesen werden will wie ein Buch. Ab 250 zerren selbst beiläufige Biegungen an den Nackenmuskeln, ab 300 verjüngt sich die Spur zu einem trichterförmigen Strich, ab 350 ist das Auto manchmal schneller als das menschliche Auge. Das Drumherum sind bunte Versatzstücke von surrealer Gemächlichkeit, die kommen wie hingewürfelt und verschwinden wie ausgeblendet.

Die Beschleunigung könnte phänomenaler kaum sein. Schon der Anfahrschub hat den Kick einer Gummischleuder, das explosive Drehmoment schiebt Gang für Gang an wie die sieben Stufen einer Mondrakete, die Fahrwiderstände proben und verlieren den Aufstand, der Horizont nähert sich mit Riesenschritten. Kurz nachdem die Vernunft den Mut schachmatt gesetzt hat, wird mit aller Macht gebremst. Der Beißreflex der Karbon-Keramik-Scheiben im Verkehrszeichen-Format, die steil himmelwärts gereckte Luftbremse und die vom Reifenexperten Michelin eigens zubereitete Gummimischung erinnern in Summe an den Gegenschub eines auf kurzer Piste spät gelandeten Airbus. Warnung: Prüfen Sie vor dem Bremsvorgang den Sitz von Toupet und Brille, schaffen Sie Ordnung in der Magengrube, absolvieren Sie eine Grundausbildung in Relativitätsgeschwindigkeit.

Der Bremsvorgang hat seine ganz eigene Dramaturgie

Aus 300 km/h beträgt der reine Bremsweg bis zum Stillstand 375 Meter. Obwohl sie damit so lang ist wie ein Konvoi aus 55 S-Klassen von Mercedes, ist diese Zeitraffer-Aktion eine physikalische Großtat. Noch mehr Überlebensraum sind bei 362 km/h nötig, wobei sich die extreme Längsverzögerung nicht immer in der räumlichen Enge einer einzigen Fahrspur bewerkstelligen läßt. Auf Querfugen, entlang von Längsrillen und durch Biegungen gehört ein gewisses seitliches Versetzen des Vorderwagens während des Energie-Abbaus ganz einfach zur Dramaturgie.

Weil der Chiron nicht rekuperiert, die enorme Bremsenergie also nicht zurückgewinnt und in einer Batterie speichert, produzieren eilige Anhaltevorgänge vor allem heiße Luft. Häufiges Beschleunigen führt dagegen zu feuchten Händen, glänzenden Augen und enormer Freude bei Tankstellenpächtern. Schließlich vervierfacht der Bugatti den angegebenen Normverbrauch von 22,5 Litern im Bleifuß-Modus fast. Anders ausgedrückt: nach 96 Kilometern war der 100-Liter-Tank nur noch zu einem Drittel gefüllt. Ein realistischer Durchschnittsverbrauch dürften etwa 35 Liter sein.

Im Prinzip ist die Landstraße jedoch der natürliche Feind des 1995 Kilogramm schweren Chiron. Hier sind Wendigkeit und Agilität gefragt, möglichst wenig Masse und Gewicht, eine kurvengierige Achslastverteilung und ein heckbetontes Eigenlenkverhalten. Der Bugatti jongliert mit technischen, die Physik austricksenden Systemen so gekonnt mit seinem Drehmoment-Überschuss, dass er mit den vorne etwas breiteren 20 Zoll-Rädern zackig einlenkt. Die bei hoher Geschwindigkeit souveräne Lenkung geht im unteren Tempobereich so spontan zu Werke, dass man sich daran erst gewöhnen muss. Auf trockener Straße carvt der Bugatti ohne mit dem Heck zu zucken durch Kurvenradien aller Art. Dieser Mix aus Top-Traktion und Klettverschluss-Kurvengrip führt in Verbindung mit der surrealen Beschleunigung zu einem rauschähnlichen Gefühl der Unverwundbarkeit.

Ein 2,86 Millionen Euro teures Technologie-Manifest

Der Bugatti Chiron ist der Sir unter den Supersportlern, meisterhaft inszeniert, von tadellosem Benimm und vorbildlicher Haltung. Der wummernde Koloss von einem Motor kann richtig laut sein, aber er klingt nicht einmal bei 6700 Umdrehungen prollig. Das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe reagiert schnell, ist aber kein brachialer Einpeitscher. Das Fahrwerk unterbindet jedes Aufschaukeln im Keim, bleibt aber stets komfortabel. Die Bedienung fördert den Spieltrieb, aber eigentlich hat man in diesem Auto die Augen überall, nur nicht auf Skalen und Displays.

Chiron-Kunden sollten keine Throphäensammler sein, müssen mit Geschwindigkeit umgehen können, brauchen Zugang zu geeigneten Arenen, von den finanziellen Mitteln und einer gewissen Charakterfestigkeit ganz zu schweigen. Natürlich wäre es schön, ein derartiges, mindestens 2,86 Millionen Euro teures Technologie-Manifest sein Eigen nennen zu dürfen. Aber für den Erlebnisspeicher im Hinterkopf reicht zunächst einmal diese wunderbare erste Begegnung, auf die man immer dann zurückgreifen kann, wenn Mobilität mal wieder über Gebühr durch Langsamkeit geprägt ist.

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