Digitalisierung im Auto:Surfen so wichtig wie fahren
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Der BMW iX soll ein neues Nutzererlebnis bieten. Doch bei der Vorab-Premiere ist von der digitalen Zauberei noch wenig zu sehen.
Von Joachim Becker
Ein Elektro-Scooter mit großem Display und ein BMW-SUV wie ein Kinosaal: Die weißblaue Marke stellt virtuelle Welten gleichberechtigt neben die reale Fahraufgabe. Weil moderne Mobilisten keine zehn Minuten offline sein können oder wollen, kommt selbst der City-Flitzer mit dem sperrigen Namen "BMW Motorrad Definition CE 04" nicht ohne eine zehn Zoll große Mattscheibe aus. Beim BMW i X am anderen Ende des Größenspektrums ersetzt ein gebogener Breitwand-Bildschirm das klassische Cockpit. Der Elektro-SUV im Format eines X 7 ist die erste echte BMW-Modellinnovation seit langem: "Wir haben tatsächlich einige Zeit gebraucht, um zu überlegen, was der nächste Schritt sein könnte", erzählte Adrian van Hooydonk schon vor zwei Jahren. Für den Chef-Gestalter der Markengruppe ist der BMW iX die logische Fortsetzung der BMW i-Philosophie: "Wie kann Elektromobilität zu einer Marke wie BMW überhaupt passen? Mit dem i 3 und dem i 8 haben wir uns dann für ziemlich radikale Ansätze entschieden."
Tatsächlich hat sich BMW 2013/14 weit vorausgewagt: Die Hybridflunder mit den Flügeltüren blieb ein hübsches Sammlerstück mit den Seriennummern von eins bis 10 000. Auch der Elektro-Knubbel i 3, das sogenannte Megacity-vehicle, wirkte lange Zeit als Exot. Für typische Kleinwagenkäufer war er viel zu unkonventionell und vor allem zu teuer. Für die Coupé-verliebte, aber nicht weniger konservative Design-Schickeria der weißblauen Marke war der rollende Würfel erst recht gewöhnungsbedürftig. 200 000 Stück in acht Jahren zeigen, dass es mit dem Fortschritt so eine Sache ist. Nur das, was die Kunden als Innovation kaufen, ist auch eine.
Der aufwändige Carbon-Leichtbau war die Antwort auf eine Frage, die viele Kunden so gar nicht gestellt hatten. Und die supersichere BMW-Batterie erreichte lange nicht die Energiedichte eines Tesla-Akkus. Was die BMW-Führung in tiefes Grübeln stürzte. Seit dem 100-jährigen Firmenjubiläum haben die Münchner das Bermuda-Dreieck zwischen E-Mobilität, Vollvernetzung und autonomem Fahren mit Design-Studien immer neu ausgelotet. Vom vollständigen Umbau des Autoherstellers in einen digitalisierten Mobilitätskonzern ist kaum mehr als das Baugerüst geblieben: Das vollautonome Fahren verzögert sich, die Mobilitätsdienste werden abgewickelt, weil Carsharing keine nennenswerte Marge bringt. Und das (Digital-)Design?
Der iNext sei ähnlich radikal wie der i 3, sagte Adrian van Hooydonk über die Studie. In die Serie geschafft hat es aber nur ein ziemlich typisches X-Modell (der nächsten Generation). Keine Sicken im Blech, mit rahmenlosen Scheiben und versenkten Türgriffen. Alles sehr schnörkellos, aber nicht gerade avantgardistisch. "Der BMW i X zeigt, wie wir neuen Technologien ein sehr modernes und emotionales Design geben können", so van Hooydonk, "das Fahrzeug ist technologisch hochkomplex, in seiner Anmutung aber sehr klar und unkompliziert." Die Serienversion polarisiert nicht so wie das Konzeptfahrzeug. Allerdings sind die vertikalen Kühler-Nieren geblieben - ein Design-Zitat aus den 30er Jahren.
Es scheint ein Gewohnheitsrecht auf vertraute Autoformen zu geben. Schließlich gehören die rollenden Blechkanister seit Generationen zum festen Inventar unserer Städte. Mercedes setzt mit seiner neuen Luxus-Strategie auf Ikonen wie die G-Klasse und Mini hat sichtlich Probleme, das Retro-Design des Kleinwagenklassikers radikal zu modernisieren. Auch Tesla hat die Fremdheit des neuen Elektroantriebs zunächst mit einem gehörigen Schuss Sportwagen-Nostalgie im Exterieur abgemildert. Wer weiß, ob der Funke beim Model S übergesprungen wäre, wenn es das kantige Panzer-Design eines Cybertrucks mit dem Cockpit-losen Interieur des Model 3 kombiniert hätte.
Aber zurück zum BMW i X. Auch im neuen Innenraum dürften sich BMW-Fahrer schnell zurecht finden. Weniger Knöpfe, die Bedienung vieler Funktionen versteckt sich in smarten Materialien oder erfolgt per Sprachdialog mit der Maschine. Die gute Nachricht: Der iDrive-Controller in der Mittelkonsole bleibt, was ein schnelles, präzises Surfen durch die Menüs erlaubt.
Adrian van Hooydonk spricht von einem "Loft auf Rädern", das Auto erweitere also die geschützte, wohl gestaltete Privatsphäre in den öffentlichen Straßenraum. Er betont das großzügige Raumgefühl, aber so viel Platz ist in dem gut fünf Meter langen Auto dann doch nicht. Außerdem verhindern die Sicherheitsanforderungen, dass sich die Passagiere mitsamt der Sitze während der (automatisierten) Fahrt einander vollständig zuwenden können. Vorne lässt sich die Bestuhlung womöglich ein wenig drehen. Hinten erwartet die Passagiere statt der seitlich weit herumgezogene Lounge-Sessel (wie in den Studien) eine profane Rückbank mit umklappbaren Lehnen. Hier hat das ausgeliterte Ladevolumen offensichtlich über den Traum von den weiten Wohnlandschaften gesiegt.
Es ist also eine Sache, Speerspitze der technologischen Entwicklung zu sein ("Vorsprung durch Technik") oder ein "neues Zeitalter der Mobilität" einzuläuten, wie es BMW für sich beansprucht. Dieser iPhone-Moment, der ein völlig neues Design und Nutzererlebnis in der Autoindustrie einführt, erschließt sich bei der ersten i X-Präsentation noch nicht. Aber bis zur Markteinführung Ende des nächsten Jahres ist ja noch ein bisschen Zeit. Klar ist, dass der neue Luxus weniger mit handschmeichelnden Stoffen, sondern mit den Sensoren und rechenstarken Mikro-Chips dahinter zu tun hat. Der 2,5-Tonner ist eine einzige große Computer-Plattform, die sowohl im Infotainment als auch bei autonomen Fahrfunktionen ständig erweiterbar ist. Es wird wohl noch zwei bis drei Jahre dauern, bis der Wagen bei Autobahnrichtgeschwindigkeit längere Strecken selbständig fahren kann - und das auch gesetzlich zulässig ist. Erst dann kann diese digitale Bühne auf Rädern das gesamte Feuerwerk ihrer digitalen Zusatzdienste abbrennen.
BMW ist nicht als einziger Hersteller auf der Datenautobahn unterwegs: "Das ästhetische Erlebnis der digitalen Welt wird genauso wichtig wie das ästhetische Erlebnis des Autos selbst", hatte Daimler-Chef Ola Kälennius bei der Präsentation seiner neuen Strategie proklamiert. Und es ist kein Zufall, dass die Stuttgarter ihre Studie "Vision AVTR" auf der diesjährigen CES zusammen mit dem Hollywood-Produzenten James Cameron ("Avatar") vorgestellt haben: Das Innen und Außen sollen zu einer endlosen, digital angereicherten Inszenierung verschmelzen. Deshalb wirkt auch der BMW i X ohne die Bildschirminhalte so sexy wie ein ausgeschaltetes Smartphone. Mögen die (Filmfest-)Spiele beginnen!