Bildstrecke:Kathedralen der Mobilität

"Der Bahnhof weiß nur von Freuden oder Tränen", schrieb einst der amerikanische Schriftsteller William Faulkner. Kein Wunder, dass Bahnhöfe beliebte Schauplätze für Schriftsteller sind.

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Eine Bahnhofsbekanntschaft mit Folgen: In Lew. N. Tolstois Erfolgsroman "Anna Karenina" verliebt sich Graf Wronskij, der eigentlich nur seine Mutter abholen wollte, auf dem Petersburger Bahnhof in Anna Karenina:"Als er sich umschaute, wandte sie sichauch gerade um. Die leuchtenden, grauen Augen(...) richteten sich freundlich und aufmerksam auf sein Gesicht, als ob sie ihn erkenne (...). In diesem kurzen Blick hatte Wronskij die verhaltene Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Gesicht spielte und zwischen den blitzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte."Allerdings steht die erste Begegnung am Bahnhof unter einem schlimmen Vorzeichen: Ein Bahnangestellter ist gerade von einem Zug überfahren worden. Im Bild: Greta Garbo als Anna Karenina in der Verfilmung von 1935.Übrigens: Tolstoi selbst stirbt im November 1910 auf dem kleinen Bahnhof Astapowo.Foto: Bettmann/CORBIS

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Der "Anhalter" in Berlin: Das ist wohl der poetischste, literarischste aller Berliner Bahnhöfe, und das nicht erst, seit er - im Krieg schwer getroffen und 1959 mit Ausnahme des Portikus gesprengt - als bloße Ruine von einer schicksalsbewegten Vergangenheit zeugt und das Gras über die Gleise wächst.Im November 1938, kurz nach der "Reichskristallnacht", reiste Paul Celan über Berlin nach Frankreich, um in Tours sein Medizin-Studium anzutreten. Am Anhalter Bahnhof erkannte er die Zeichen der Zeit, und sein Gedicht nahm die nahe Zukunft vorweg:Über Krakau bist du gekommen, am Anhalter Bahnhof floß deinen Blicken ein Rauch zu, der war schon von morgen.Auch für Walter Benjamin gehört das "Tor in die blaue Ferne", das Berlin mit Athen, Rom und später auch Neapel verband, zu den Erinnerungen seiner Berliner Kindheit und wird ihm, als "Mutterhöhle" aller Bahnhöfe, zum Sinnbild für Ankunft und Abreise.Im Bild: der Anhalter Bahnhof um 1900.Foto: picture alliance / akg-images

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Das Rauschen der Zeit: Bei ihrer Eröffnung 1910 wurde die Pennsylvania Station als weltweit größter und schönster Bahnhof gefeiert. Für ein halbes Jahrhundert verkörperte der prunkvolle Bau mit seinen Anleihen beim alten Rom die imperialen Ambitionen der Nation.Doch nicht nur in ästhetischer Hinsicht ließen sich die Architekten von der Antike inspirieren. Um den bautechnischen Umgang der Römer mit riesigen Menschenmengen zu studieren, ...Im Bild: die Penn Station (so die Kurzform), damals einer der größten Bahnhöfe der Welt, und der Nelson Tower (1930).Foto: Bettmann/CORBIS

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... ließen sie in den Ruinen der Caracalla-Thermen (in Rom) Ortsansässige aufmarschieren.Die Masse, die täglich einen Bahnhof passiert, mag für die Architekten eine anonyme mathematische Größe gewesen sein, der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe hingegen gibt ihr menschliche Gestalt: Er entwirft das Bild einer Gesellschaft am Vorabend des Börsenkrachs. Eines Mittwochabends im Jahr 1929 tritt George Webber aus Wolfes Roman "Es führt kein Weg zurück" von der Penn Station aus eine Reise in seine Heimatstadt an:Als er den Bahnhof betrat, spürte er sogleich das mächtigferne Summen der Zeit, das ihn erfüllte. (...) Nur wenige Gebäude sind so groß, daß die Stimme der Zeit sich von ihnen einfangen läßt, und George fand es ganz sinnvoll, daß gerade ein Bahnhof sich dafür am besten zu eignen schien."Im Bild: Die Penn Station zu ihren besten Zeiten (1934).Foto: Bettmann/CORBIS

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In den sechziger Jahren ging es der Penn Station wie vielen anderen Bahnhöhen der westlichen Welt, die den stetig wachsenden Herausforderungen nicht mehr gewachsen waren: Sie wurde abgerissen. Heute ist das reduzierte Bahnhofsgeschehen ganz in den Untergrund verbannt. Vorbei ist es auch mit den 18 m hohen korinthischen Säulen, dem 45 m hohen Kreuzgewölbe, den 158 Trinkwasserspendern, dem Büro für Verwirrte, dem Erste-Hilfe-Raum mit Arzt, dem Extra-Raum für Trauernde, (...) und auch mit dem Wartesaal für Männer, in dem sich Obdachlose aufwärmten, bis sie zum Vorzeigen der Fahrkarten aufgefordert wurden. Ihnen hat der US-Schriftsteller und Nobelpreisträger William Faulkner in den dreißiger Jahren seine Erzählung mit dem Titel "Pennsylvania Station" gewidmet:Sie schienen Schneegeruch mit hereinzubringen, vom Schnee, der draußen in der Seventh Avenue fiel. (...) Sie gingen weiter, zum Rauchersaal. Der alte Mann spähte durch die Tür. "All right", sagte er. Er sah aus wie sechzig, war aber wahrscheinlich achtundvierzig oder zweiundfünfzig oder achtundfünfzig."Im Bild: Die Penn Station als Bühne - Anhänger der Kommunistischen Partei erwarten 1934 einen Genossen.Foto: Bettmann/CORBIS

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Entfernung macht Liebe: Wer kennt sie nicht, die quälenden letzten Minuten auf dem Bahnsteig, wenn der Abschied getan, alles gesagt worden ist, die Zeit für einen Augenblick sich leert, bevor der Zug sich endlich von der Stelle rührt? Sie haben ein Gift in sich, sagt Alfred Polgar, ein Art "Krampf" entsteht, es treten Lähmungserscheinungen des Gehirns und der Zunge ein. Alle Quellen des Gesprächs scheinen wie "festgefroren", der Strom ist ausgeschaltet. Erst recht müssen die einem gewissen Herrn Aghios zusetzen, den sein Schöpfer Italo Svevo zum ersten Mal nach langen Ehejahren allein auf Reisen schickt, in Geschäftsangelegenheiten von Mailand nach Triest. Denn er kann es kaum erwarten, kann seine Frau loszuwerden, um seine Reise anzutreten, von der er sich ein winziges Stück Freiheit erhofft, kaum erwarten, "daß das Leben, das heißt die Reise beginnt":Mit sanfter Gewalt mach sich Herr Aghios von seiner Frau los und ging raschen Schrittes davon, bestrebt, in der Menge unterzutauchen, die am Bahnhofseingang immer dichter wurde.Es galt, diese Abschiedsszenen zu verkürzen, die bei alten Eheleuten lächerlich wirken, wenn sie sich in die Länge ziehen. (...)Im Bild: Ein rollender Verpflegungswagen in Mailands Stazione Centrale.Foto: Bettmann/CORBIS

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Ganz oben und ganz unten: Unzählige glamouröse Gestalten aus Film und Literatur (in den Büchern von Paul Auster, Sybille Bedford, Raymond Federman und anderen) standen im großzügig in das Grand Central Terminal hereinflutenden Sonnenlicht und haben zu dessen Legende beigetragen. MIt seiner grandiosen Beaux-Arts-Architektur, den 200 Uhren, dem Sternenhimmel an der Hallendecke und den berühmten Restaurants ist das Terminal zu einem Wahrzeichen Manhattans und einem gesellschaftlichen Mittelpunkt für New Yorker aller Schichten geworden.Ein Bahnhof, an dem täglich etwa 500.000 Leute aneinander vorübergehen, ist ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten und Begegnungen - auch im Falle von Ingeborg Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan":(...) waren zwei Neue angekommen. Das ist nichts Besonderes, könnte man meinen, und man soll's ruhig meinen. Und doch sind es der Ort, die Stellung eines Uhrzeigers, eine unglaubliche Musik, ein zitternder Zug auf einem Schienenstrang und ein Knäuel von Menschenstimmen, die möglich machen, daß es wieder beginnt.Im Bild: Grand Central Station, HaupthalleFoto: Atlantide Phototravel/CORBIS

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Ort der Handlung: Die Gare du Nord in Paris, heute ein europäischer Vorzeigebahnhof, war lange das Schmuddelkind unter den zahlreichen Pariser Bahnhöfen. Hier zog, nieselte oder regnete es ständig, es war grau, schummerig und schmutzig, zumindest in der Literatur.Außerdem traf man auf zwielichtige Gestalten, und in den Schließfächern lagen Leichen. Wegen letzterer verbrachte George Simenons Kommissar Maigret manche Stunde auf diesem Tummelplatz großer und kleinerer Fische der Pariser Unterwelt.Als der alte Maigret aber die Erinnerungen an sein Leben als wohl bekanntester Kommissar der französischen Polizei verfaßt, beschreibt er auch den öden, unwirtlichen Gare du Nord:Ich wurde in die Bahnhöfe abkommandiert. Genauer, in ein düsteres, unheimliches Gebäude, das sich Gare du Nord nennt. Es hatte denselben Vorteil wie Warenhäuser: Man war vor dem Regen geschützt. (...) Mit den ersten Nachtzügen aus Belgien und Deutschland treffen in der Frühe meist ein paar Schmuggler, ein paar Schieber ein, mit Gesichtern so hart wie das Tageslicht, das durch die Wagenfenster fällt. (...) Mit der Gare du Nord verbinden mich nur düstere Erinnerungen.Im Bild: Der Gare du Nord heute verbindet Paris sogar unter dem Kanal hindurch mit London.Foto: PictureNet/CORBIS

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Clash of Cultures: Im ehemaligen Bombay (das heute Mumbai heißt), wurde 1888 nach zehnjähriger Bauzeit der wichtigste und prachtvollste Bahnhof Indiens eingeweit, der Chhatrapati Shivaji Terminus (ehemals Victoria Terminus) - er sollte der kolonialen Herrschaft Ausdruck verleihen. In viktorianischer Neugotik mit Einsprengseln einheimischer Baukunst errichtet, steht das einst größte Gebäude Asiens für die Symbiose gegensätzlicher Kulturen.1995 wurde dem Selbstbewußtsein des unabhängigen Indiens Rechnung getragen, der Name der einstigen britischen Königin und Kaiserin von Indien verdrängt zugunsten eines indischen Königsgeschlechts, und die Stadt heißt heute nach der Göttin Mumbai, deren Tempel dem Neubau des Bahnhofs weichen mußte.Dieses Aufeinanderprallen der beiden unterschiedlichen Kontinente erfährt auch der Erzähler in Antonio Tabucchis geheimnisvoller Erzählung "Indisches Nachtstück", den die Suche nach einem verschollenen Freund zu dem Bahnhof führt:Die Bahnhofsuhr schlug Mitternacht. Die Klage in der Ferne brach mit einemmal ab, als würde sie sich nach der Uhrzeit richten. "Ein neuer Tag hat begonnen", sagte der Mann, "in diesem Augenblick hat ein neuer Tag begonnen."Im Bild: Einer der vielen überfüllten Züge, die täglich den Chhatrapati Shivaji Terminus verlassen.Foto: Antoine Serra/In Visu/Corbis

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Alle Zitate, Fotos und Texte dieser Bildergalerie stammen aus dem wunderbaren Buch "Bahnhöfe. Ein literarischer Führer" von Lis Künzli, gerade eben im Eichborn Verlag, Frankfurt, erschienen (Preis: 24,90 Euro).Foto: Eichborn Verlag

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