Süddeutsche Zeitung

Hauptbahnhof Erfurt:Damit die Züge rollen

Die Eisenbahn ist wie eine Maschine, in der viele Räder ineinander greifen müssen. Sechs Menschen, die dafür sorgen, dass der Betrieb läuft.

Von Marco Völklein

36.000 Reisende am Tag, zahlreiche Zugverbindungen zu Fernzielen wie Berlin oder Frankfurt/Main gehen hier durch, aber auch viele Regionalzüge nach Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Südthüringen - der Erfurter Hauptbahnhof ist ein wichtiger Knotenpunkt in Deutschland, nicht erst, seit die Neubaustrecke nach Nürnberg in Betrieb gegangen ist. Wie aber funktioniert so ein Bahnhof? Und wer sind die Menschen, die den Bahnbetrieb am Laufen halten? Sechs Mitarbeiter im Kurzporträt.

Die Service-Frau

Vielfältig ist die Arbeit am Serviceschalter im Zentrum des Erfurter Bahnhof. "Jeder Kunde ist anders", sagt Bettina Kunz. "Und jeder Kunde hat ein anderes Anliegen." Eine kurze Auskunft, ein verlorenes Handy, einen Verspätungszettel, um eine Entschädigung zu beantragen. Auch Hotel- oder Taxigutscheine gibt die 54-Jährige Servicemitarbeiterin aus, vor allem aber gibt sie unheimlich gern Auskunft. "Es ist es ein schönes Gefühl, anderen Menschen weiterhelfen zu können."

In den Achtzigerjahren hat die Eisenacherin ihre Ausbildung bei der DDR-Reichsbahn begonnen, "seitdem habe ich viele Dienstposten durchlaufen". Mittlerweile, nachdem beispielsweise in Eisenach das Personal reduziert wurde, ist sie für den Service und die Ansagen im Erfurter Hauptbahnhof zuständig. Der hat sich stark gewandelt: Vor einigen Jahren noch lag die Zahl der Reisenden bei 24 000 pro Tag, mit der Inbetriebnahme der Neubaustrecke nach Nürnberg stieg die Zahl auf mehr als 36 000. Davor schon wurde ein völlig neues Bahnhofsgebäude errichtet, die Gleisanlagen neu geordnet. Die Bedeutung Erfurts als wichtiger Bahnknoten ist deutlich gewachsen.

Entsprechend viel zu tun haben die etwas mehr als ein Dutzend Servicemitarbeiter von Bettina Kunz, aber auch Haustechniker wie Klaus Grabau. Der 61-Jährige ist schon 45 Jahre bei der Bahn, seine Ausbildung zum Elektriker hat er ebenfalls bei der DDR-Reichsbahn begonnen. Nun ist er meist damit beschäftigt, defekte Rolltreppen instandzusetzen oder stecken gebliebene Aufzüge zu reparieren, am Wochenende und in der Nacht auch auf Abruf, wenn er Bereitschaft hat. Zerfetzte Kofferrollen hat er schon aus den Rolltreppen gezogen, und immer wieder Spax-Schrauben. "Man fragt sich da ja schon", sagt Grabau, "wie die in unsere Rolltreppen kommen."

Der Lokführer

Die Technik, sagt Mario Schiller, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Und damit auch seine Tätigkeit als Lokführer. "Heutzutage muss ich mich nicht mehr dreckig machen", sagt der 33-Jährige. Allein schon, weil die Triebfahrzeuge, mit denen er unterwegs ist, mit modernen Kupplungen ausgestattet sind. Unter den Zug krabbeln, die Waggons von Hand aneinander kuppeln - das war einmal, jedenfalls bei vielen Regionalzügen.

Auch die Kommunikation mit dem Fahrdienstleiter läuft mittlerweile anders. Wenn Schiller den Führerstand betritt, fährt er zunächst alle Systeme hoch, prüft die Bremsen, die Elektrik - und meldet sich, sofern alles okay ist, beim Fahrdienstleiter abfahrfertig. Früher lief das per Zugfunk, heute genügt ein Knopfdruck. Damit geht eine Art Kurzmitteilung an den "Fahrdienst", wie Schiller sagt. Der stellt dann die Weichen, schaltet das Signal auf Grün, Schiller kann abfahren.

Gelernt hat der 33-Jährige den Beruf noch bei der Deutschen Bahn (DB), 2015 wechselte er zum Konkurrenten Abellio. Der jagte damals der DB viele Regionalstrecken in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ab; auch anderswo machen Wettbewerber der DB mittlerweile Konkurrenz, die Bahnwelt ist bunter geworden. Dennoch herrsche unter Bahnern eine Art familiärer Zusammenhalt, sagt Schiller. "Alles hängt ja mit allem zusammen, wir sind aufeinander angewiesen." Blockiert etwa Schillers Zug wegen eines Defekts das Gleis im Bahnhof, muss der Fahrdienstleiter schauen, wie er die anderen Züge um ihn herumlotst.

Und was wünscht sich Schiller, etwa von Fahrgästen? "Mehr Verständnis für dieses komplexe System Eisenbahn", sagt er. "Dass die Leute, wenn mal was nicht funktioniert, nicht gleich an die Decke gehen."

Der Stellwerker

Eigentlich Eigentlich wollte Johannes Stephan Pharmazie studieren, schnupperte kurz rein ins Studium. Doch schon bald wusste er: Das taugt ihm nicht. Auf einer Ausbildungsmesse wurde er schließlich auf den Beruf des Fahrdienstleiters aufmerksam.

Fahrdienstleiter sitzen in den Stellwerken und steuern von dort aus die Weichen und Signale. Ohne dass ein Fahrdienstleiter sein Okay gibt, fährt kein Zug. Drei Jahre lang lief die Ausbildung, seit fünf Jahren nun steuert Stephan, 29, die Züge im Hauptbahnhof Erfurt. Allerdings geschieht dies nicht mehr von einem Stellwerk am Ort aus, sondern aus der Betriebszentrale der DB in Leipzig. Bundesweit gibt es sieben dieser Zentralen.

Stephan sitzt in Leipzig vor zehn Bildschirmen; die zeigen die Gleise in Erfurt, Sensoren erkennen, auf welchen Abschnitten Züge stehen oder gerade fahren. Per Mausklick stellt Stephan die "Fahrstraßen" ein, steuert Weichen und Signale an. Vor dem Komplettumbau des Erfurter Bahnhofs vor gut zehn Jahren gab es mehrere Stellwerke in Erfurt, darunter ein altes "Reiterstellwerk", auf Stelzen quer über den Gleisen errichtet, Baujahr: 1912. Zehn Fahrdienstleiter regelten vor dem Umbau in Erfurt den Zugverkehr, heutzutage steuern pro Schicht zwei bis drei Mitarbeiter (je nach Tageszeit) von der Leipziger Betriebszentrale aus den Betrieb in Erfurt.

Fehlt ihm das nicht, der Blick auf die Züge, auf den direkten Zugverkehr? "Nein", sagt Stephan, er kenne es ja kaum anders. Zudem zeige die Technik ja genau an, wo ein Zug stehe; mit schlechten Sichtverhältnissen, etwa Nebel, müsse er sich nicht herumschlagen. Und wenn er in Leipzig aus dem Fenster schaue, sagt Stephan, sehe er auch Züge. "Es sind halt die vom Leipziger Hauptbahnhof und nicht die, die ich steuere."

Der Aufpasser

Drei große S bestimmen den Arbeitstag von Philipp Strickrodt. Er arbeitet als Schichtleiter in der "3-S-Zentrale", das steht für Sicherheit, Sauberkeit und Service. An jedem größeren Bahnhof gibt es eine solche Zentrale, meist irgendwo versteckt in einem Seitentrakt des Bahnhofsgebäudes. Von hier aus haben Strickrodt und seine Kollegen die gesamte Station (und im Fall Erfurt auch alle anderen Bahnhöfe in Thüringen) im Blick.

"An einem Bahnhof", sagt Strickrodt, "passiert eigentlich immer irgendwas." Und sei es nur, dass ein Fahrgast einen Kaffeebecher fallen lässt und Strickrodt einen Kollegen des Reinigungstrupps losschicken muss, um das Malheur zu beseitigen. Es kann aber auch sein, dass sich ein Wespenvolk unter dem Bahnhofsdach einnistet. Oder ein Feueralarm ausgelöst wird und der Bahnhof möglichst rasch geräumt werden muss. Auch dann sind der 26-Jährige und seine Kollegen in der 3-S-Zentrale gefordert; sie müssen dann nicht nur die Kräfte von Bundespolizei und Bahnsicherheit koordinieren, sondern auch dem Fahrdienstleiter in der Betriebszentrale der Bahn in Leipzig Bescheid geben, dass der vorerst keine Züge mehr in den Bahnhof einfahren lässt. Nichts wäre verheerender, als wenn bei einem Brand im Bahnhof noch Züge einfahren und Reisende aussteigen würden, womöglich quasi mitten hinein in die Löscharbeiten der Feuerwehr.

Zugelegt haben zuletzt die Anfragen von Rollstuhlfahrern oder anderen Fahrgästen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Die können sich helfen lassen, etwa beim Ein- und Aussteigen. Die Einsätze der Servicemitarbeiter werden ebenfalls von Strickrodt aus der 3-S-Zentrale koordiniert. Zählten die Erfurter noch vor einigen Jahren nur 100 bis 150 solcher Hilfsanfragen im Monat, stieg der Wert zuletzt auf 300 bis 500.

Der Techniker

Wenn man den Chef von Bernd Kühm fragt, was der denn so für ein Typ sei, dann sagt der Werkleiter nur: "Das ist ein Zauberer." Dabei hat der 51-Jährige zunächst einmal wenig Magisches an sich. Mit einem Zwei-Wege-Fahrzeug zieht Kühm einen Triebwagen in die große Werkshalle in Erfurt, platziert die erste Achse des vorderen Drehgestells auf seiner URD - und stellt die Werte ein. Kurze Zeit später drechselt die Anlage kleine Späne vom Radreifen des Triebzuges.

Kühm arbeitet im Millimeterbereich - damit das Rad nach der Behandlung wieder rund rollt. Seit 1990 arbeitet der gelernte Elektromonteur an der URD, der "Unterflur-Radsatz-Drehmaschine". Die spielt eine zentrale Rolle im Bahnbetrieb, regelmäßig müssen die Züge auf die Anlage, um verschlissene Radreifen wieder aufzuarbeiten. Passiert das nicht, sind Schäden programmiert, entweder am Zug oder am Gleis. Im Erfurter Bahnwerk, wo sie vor allem Regionalzüge instandsetzen, sei Kühms langjährige Erfahrung besonders gefragt, so der Chef. "Im Team ist er unabkömmlich."

Vor einiger Zeit stand ein Hochgeschwindigkeitszug der norwegischen Bahn auf Kühms Maschine. Die Norweger hatten den Zug in Spanien gekauft und wollten Testfahrten machen, aber mit abgenutzten Radreifen. Kühm musste die Räder künstlich altern lassen. Und bekam auch das hin - ein Zauberer eben.

Kühm selbst versteht sich und seine Kollegen im Werk als Dienstleister, als diejenigen, die den Betrieb am Laufen halten. Er werde "schon ungeduldig", sagt er, wenn er beispielsweise an der URD fertig ist und ein Zug abgeholt werden kann, das aber dann nicht klappt. "Dann weiß ich ja, dass die Leute am Bahnsteig stehen und warten."

Die Verkäuferin

Verreist sei sie schon immer gern, sagt Sandra Tiersch-Noack. Deshalb lag der Berufswunsch irgendwie nahe, Reiseverkehrskauffrau wollte sie werden, Ende der Achtzigerjahre. Bei der DDR-Reichsbahn begann die heute 48-Jährige ihre Ausbildung, wechselte später zur Deutschen Bahn und steht heute mit ihren eigenen Reiseerfahrungen Kunden im Erfurter Reisezentrum zur Seite. Wenn ein Fahrgast zum Beispiel ein Ticket für die Fahrt zum Flughafen braucht, "dann rate ich auch schon mal, einen Zug früher zu nehmen". Nicht nur, weil der Zubringer verspätet sein kann, "auch weil man am Flughafen hin und wieder mal länger warten muss", sagt sie.

Die persönliche Beratung - das ist ihr Geschäft. Heutzutage allerdings ist die weniger gefragt. Nur noch 20 Prozent der Tickets verkauft die DB an den Schaltern; die Automaten, das Internet und das Smartphone machen dem klassischen Vertrieb am Schalter Konkurrenz. Von einst sechs Verkaufsschaltern sind im Reisezentrum in Erfurt heute noch vier übrig; Sandra Tiersch-Noack glaubt dennoch, dass sie und ihre Kollegen weiterhin zu tun haben werden. "Länger und intensiver" seien die Kundengespräche mittlerweile. Auslandsreisen, komplizierte Buchungen, Reservierungen fürs Fahrrad - bei all diesen Fällen, die sich im Internet nur schwer buchen lassen, helfen die Berater am Schalter weiter.

Und nicht zuletzt sind Tiersch-Noack und ihre Kollegen Anlaufstelle für Fahrgäste, wenn es mal wieder klemmt auf der Schiene. Prellbock für die Kunden quasi. "Auch in diesen Situationen verstehe ich mich als Teil der Eisenbahn", sagt sie. Den Ärger abfangen, den erbosten Kunden "wieder auf den Boden holen", vielleicht mit einem Lächeln und etwas Kulanz. "Damit er der Bahn am Ende gewogen bleibt."

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Quelle:
SZ vom 08.02.2020/cku
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