Bahn:Stau auf der Schiene

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Ein Güterbahnhof in Nordrhein-Westfalen: Nach den Plänen der Bundesregierung sollen künftig mehr Waren über die Schiene transportiert werden. (Foto: Leon Kuegeler/imago images/photothek)

Verspätungen, Zugausfälle, Umleitungen - es hakt massiv bei der Bahn. Beim Güterzugbetreiber TX Logistik versuchen sie dennoch, das Chaos irgendwie in den Griff zu kriegen. Ein Besuch in der Leitstelle.

Von Marco Völklein

Heftige Verspätungen, immer wieder Zugausfälle - es läuft nicht rund im deutschen Schienennetz. Erst Ende Mai musste Richard Lutz, Chef der Deutschen Bahn (DB), einräumen, dass zahlreiche Baustellen den Verkehr auf der Schiene massiv behindern. Hinzu kommt, dass über die Jahre Investitionen versäumt wurden, leistungsfähige Umleitungsstrecken fehlen. Kurz: Das Netz ist völlig überlastet. Was das konkret heißt, das kann man bei einem Besuch im European Control Center (abgekürzt: ECC) der TX Logistik AG in Troisdorf bei Köln erleben. Von dort aus steuert der Güterzugbetreiber, der zur italienischen Staatsbahn FS Italiane gehört, seine Transporte. Die Mitarbeiter dort schlagen sich jeden Tag mit vielerlei Unbill herum, nicht nur mit den zahlreichen Baustellen.

5.46 Uhr, Troisdorf

Wie immer beginnt Ali Demirsal auch an diesem Dienstag seinen Dienst etwa eine Viertelstunde vor dem eigentlichen Schichtwechsel. Der 30-Jährige ist Disponent in der Leitstelle in Troisdorf, zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen managt er an diesem Morgen etwas mehr als zwei Dutzend Züge von TX Logistik. Besetzt ist die Leitstelle 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Von der Nachtschicht hat das Team einiges übernommen, das nun abgearbeitet werden muss.

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6.12 Uhr, Würzburg

Ein Problem an diesem Morgen: Güterzug 49887 sollte eigentlich längst auf dem Weg von Rheine nach Italien sein, stattdessen ist er seit Tagen auf einem Abstellgleis in Würzburg geparkt. Zuvor hatte die Netztochter der DB den Zug fehlgeleitet. "Nun muss der dringend da weg", sagt Demirsal. Die DB benötige das Gleis. Disponent Demirsal ruft einen Bereitschaftslokführer an. "Jürgen", ruft Demirsal ins Telefon, bei der Eisenbahn sind alle per Du. "Kannst du den 49887 nach Treuchtlingen fahren?" Dort hat TX Logistik ein Abstellgleis angemietet, zudem stimmt die grobe Richtung: südwärts.

Ein Güterzug von TX Logistik. (Foto: Johannes Thorwarth/TX Logistik)

6.36 Uhr, Mainz

Ein weiteres Problem an diesem Morgen: Zug 43151 soll um 10.29 Uhr von Köln aus ebenfalls gen Süden starten, nach Verona. Allerdings hat der Zug noch keine Lokomotive. Die zieht gerade einen anderen Güterzug von Bologna kommend nach Köln. Doch dieser Zug steckt in Mainz fest, in einem dieser berüchtigten Knotenpunkte im deutschen Schienennetz, die stets überlastet sind. "Der schafft das nie im Leben pünktlich nach Köln", sagt Demirsal. Per Rundmail informiert er unter anderen Lokomotivführer Ünal und die Kundendispo, dass Zug 43151 wohl nicht vor 13 Uhr losfahren wird. "Und das ist schon optimistisch geschätzt", sagt Demirsal. Wie sich später noch zeigen wird.

8.35 Uhr, Troisdorf

Kein Zug fährt ohne Fahrplan, auch kein Güterzug. Also bestellt Disponent Demirsal einen Fahrplan für Zug 49887, der aus Würzburg weg muss. Dazu trägt er am Computer unter anderem Länge und Tonnage des Zuges in eine Maske ein, dazu einige Besonderheiten, all das geht elektronisch an den Netzbetreiber, eine Tochterfirma der DB. Die gewünschte Abfahrtszeit: 10.30 Uhr. "Damit hat der Jürgen genügend Puffer für die Vorbereitungen", sagt Demirsal. Unter anderem muss der Lokführer eine ausführliche Bremsprobe machen, dazu mehrmals am Zug entlanglaufen. All das kostet Zeit. Viel Zeit.

9.03 Uhr, Troisdorf

In Demirsals E-Mail-Postfach ploppt die Krankmeldung eines Lokführers auf. War der für eine Zugfahrt eingeplant? Demirsal ruft das Programm für die Personaldispo auf - und kann sich gleich wieder entspannen. Der Kollege war bereits seit einigen Tagen krankgeschrieben und ist aktuell für keinen Einsatz vorgesehen.

9.07 Uhr, Troisdorf

Eine weitere E-Mail ploppt auf. Die DB hat den Fahrplan für Zug 88916 von Würzburg nach Treuchtlingen erstellt, Abfahrt: 10.43 Uhr. "Das passt", sagt Demirsal. Zudem waren die Kollegen bei der DB schnell; nur etwa 30 Minuten für die Erstellung des Fahrplans. Bei komplizierteren Fahrplananforderungen könne das auch schon mal länger dauern, erzählt der Disponent. Vor allem, wenn die dafür nötigen Spezialisten schon Feierabend gemacht haben. "Dann wartet man auch mal ewig auf einen Fahrplan", sagt Demirsal. Per Mausklick leitet er den Fahrplan an Lokführer Jürgen weiter.

Disponent Ali Demirsal an seinem Arbeitsplatz. (Foto: Marco Völklein)

10.12 Uhr, Troisdorf

Disponent Demirsal klickt sich durch die Programme auf den sechs Bildschirmen vor sich. Der Zug von Mainz nach Köln, dessen Lok dringend für Zug 43151 nach Verona benötigt wird, hat sich weiter verspätet. Das DB-System nennt mehrere Gründe, unter anderem diverse Baustellen; auch eine Störung an der Leit- und Sicherungstechnik, also an einer Weiche oder einem Signal, hat den Zug aufgehalten. Zudem listet es zahlreiche "Zugfolgeverspätungen" auf, Demirsal übersetzt: "Stau auf der Schiene". Schon jetzt sind zu viele Züge im deutschen Netz unterwegs; die DB als Betreiberin operiert vielerorts hart an der Kapazitätsgrenze, manchmal auch weit darüber hinaus. Das schlägt sich in massiven Verspätungen nieder, auch und insbesondere bei den Güterzügen, wo Verzögerungen von mehreren Stunden mittlerweile Normalität sind.

Und die Bundesregierung will künftig noch mehr Fracht auf die Schiene holen, um im Klimaschutz voranzukommen, aber auch, um die Autobahnen von den vielen Lastwagen zu entlasten. "Ohne einen massiven Ausbau der Infrastruktur und eine entsprechende Instandhaltung wird das nicht gehen", sagt Nicolas Druey, der Leiter des ECC. Zumal die Bundesregierung auch im Personenverkehr künftig mehr Menschen zum Umstieg bewegen möchte, raus aus dem Auto, rein in den Zug.

10.46 Uhr, Würzburg

Lokführer Jürgen schickt eine Mail: Zug 88916 hat Würzburg verlassen, ist nun auf dem Weg nach Treuchtlingen. Nahezu pünktlich. "Mal sehen, was da noch so passiert", sagt Demirsal. Was ihn reizt an seinem Job in der Leitstelle? "Die Abwechslung", sagt er. Er wisse bei Schichtbeginn nie, was ihn erwarte. Und: "Ich mache etwas Sinnvolles." Lieber schicke er, zum Schutz der Umwelt, einen Zug mit 30 Sattelaufliegern auf die Reise als 30 einzelne Lastwagen, sagt der gelernte Speditionskaufmann. Würde er wieder zurückgehen ins Lkw-Geschäft? "Nein", sagt Demirsal. "Niemals." Die Welt der Eisenbahn, "das ist mein Ding". Obwohl hier alles so hochgradig komplex ist, alles mit allem so eng miteinander verwoben ist? "Genau deshalb, das ist ja die Herausforderung", sagt er.

12.28 Uhr, Bietigheim-Bissingen

Lokführer Christian meldet sich per Telefon. Die Betriebszentrale (BZ) der Deutschen Bahn in Karlsruhe hat ihn in Bietigheim "an die Seite genommen"; der Zug steht also auf einem Nebengleis. Auf dem drittletzten Waggon hat sich eine Plane an einem Sattelauflieger gelöst; so kann Zug 41870, unterwegs von Triest nach Bettembourg in Luxemburg, nicht weiterfahren. Nur eine Minute später ruft bereits ein DB-Kollege aus der BZ in Karlsruhe bei Demirsal an: "Ihr kümmert euch?" Der Disponent: "Na klar!"

12.52 Uhr, Köln

Der Zug mit der Lok aus Mainz ist da. Endlich. Nun wird abgekuppelt, die Lokomotive umgesetzt und an Zug 43151 nach Verona gekuppelt. Dann Bremsprobe machen, Papiere checken. Lokführer Ünal hat gut zu tun. "Das klappt meistens recht zügig", sagt Demirsal. Die Abfahrt wird sich dennoch um weitere eineinhalb Stunden verzögern. Im Übergabeprotokoll für die Spätschicht notiert er: "Abfahrt vorauss. 14.30 Uhr."

In jeder Schicht sind drei Arbeitsplätze in der Leitstelle besetzt. (Foto: Marco Völklein)

12.55 Uhr, Troisdorf

Anruf bei Lokführer Christian in Bietigheim: "Wie sieht's aus?", fragt Demirsal. "Kriegst du die Plane gerichtet?" Glück im Unglück: Christian hat einen Lokführer-Azubi dabei, der packt mit an. Schaffen sie es nicht, müssten die letzten drei Waggons abgekuppelt und vorläufig abgestellt werden; "in Bietigheim kann das aber nicht passieren", das hat der Kollege aus der DB-Betriebszentrale in Karlsruhe am Telefon schon klargemacht. Disponent Demirsal müsste sich dann etwas einfallen lassen...

12.59 Uhr, Treuchtlingen

Lokführer Jürgen ist mit Zug 88916 in Treuchtlingen angekommen. Die Weiterfahrt des (ja ohnehin schon mehrere Tage verspäteten) Zuges nach Italien ist allerdings erst in drei Tagen vorgesehen, mittlerweile kümmern sich mehrere andere TX-Abteilungen um das Sorgenkind. Weil ein anderer Italien-Zug, der eigentlich für den Freitag vorgesehen war, storniert wurde, soll 88916 nun dessen Fahrplan am Freitag nutzen für die Fahrt gen Süden.

13.10 Uhr, Bietigheim-Bissingen

Lokführer Christian meldet sich: Die Plane an dem Lkw-Auflieger ist wieder fest. Problem gelöst, der Zug kann weiterfahren. Eigentlich lag 41870 gut in der Zeit: Mehr als eine Stunde war er vor dem Fahrplan unterwegs gewesen, als er in Bietigheim an die Seite genommen wurde. Nun ist von dem Zeitpuffer kaum was übrig.

Auf den Bildschirmen in der Leitstelle laufen alle Informationen zusammen. (Foto: TX Logistik)

13.44 Uhr, Troisdorf

Die Spätschicht trudelt ein, Demirsal übergibt an eine Kollegin. Sein Fazit? "Weitgehend entspannt", sagt er. Größere Störungen, etwa Ausfälle ganzer Stellwerke oder mehrstündige Streckensperrungen, gab es heute keine. Alles ruhig also? "Das R-Wort benutzen wir hier nicht so gern", sagt Demirsal und schmunzelt. Denn wenn es falle, dann passiere nicht selten etwas. Und dann war's das mit der Ruhe.

13.49 Uhr, Bietigheim-Bissingen

Kurz vor Schicht-Ende ein letzter Anruf bei Lokführer Christian, der mit der losen Lkw-Plane. Noch immer steht er auf dem Nebengleis in Bietigheim. "Wie sieht es aus?", fragt Demirsal. "In diesem Moment geht es weiter", antwortet der Mann aus der Lok. Das Signal vor ihm zeigt Grün. Freie Fahrt.

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