Süddeutsche Zeitung

Zugverkehr:Warum die Bahn ihre Schienen weiß anmalt

In Nordhessen experimentiert die Deutschen Bahn mit einem neuen Anstrich für die Schienen. Was das mit dem Klimawandel zu tun hat und was es bringen soll.

Von Marco Völklein

Vor einigen Monaten setzten die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) einige Azubis an ein ungewöhnliches Projekt. Sie sollten einen Bauzug so umrüsten, dass der mit Sprühdüsen weiße Farbe auf die Schienen auftragen kann. Im Sommer war der Spritzzug dann im Brazer Bogen unterwegs, einer Bahnstrecke in Vorarlberg. Auf einer Länge von knapp sechs Kilometern wurde dort weiße Farbe auf die Gleise aufgetragen. Ein Jahr lang wollen die österreichischen Bahner nun prüfen, ob sich die Gleise so besser vor zu starker Sonneneinstrahlung schützen lassen.

Ein ähnlicher Versuch läuft seit Anfang dieser Woche auf der Pfieffetalbrücke bei Melsungen in Nordhessen. Dort färbten Arbeiter auf einem ein Kilometer langen Abschnitt die Schienen ebenfalls weiß ein - wenn auch nicht mit einem speziell konstruierten Gleisbauzug, sondern per Hand. Extreme Hitze führt nach Angaben einer Sprecherin der Deutschen Bahn (DB) dazu, dass sich der Stahl ausdehnt. Die Schienen und das Gleisbett werden dabei stark strapaziert, im schlimmsten Fall können sich die Schienen so verformen, dass kein Zugverkehr mehr möglich ist. Der weiße Anstrich soll dazu führen, dass sich der Stahl weniger stark erhitzt.

Das Prinzip ist bei der Eisenbahn schon lange bekannt: Noch bevor Carl Linde im Jahr 1876 eine Maschine zur Erzeugung künstlicher Kälte erfand, verkauften beispielsweise bayerische Bierbrauer ihre Erzeugnisse in weit entfernte Regionen, auch ins Ausland. Um das Bier während des Transports kühl zu halten, wurde es zusammen mit dicken Eisblöcken in Spezialwaggons verladen. Die zeichneten sich anfangs alleine dadurch aus, dass sie weiß angepinselt waren; später wurden dann ergänzend dazu Doppelwände zur besseren Isolierung eingezogen. Über Jahrzehnte prägten diese weißen Wagen das Bild auf den Güterbahnhöfen; erst die Erfindung des Containers und der Umstieg vieler Brauereien auf den Transport per Lastwagen ließen sie verschwinden.

Der Versuch mit den weiß getünchten Schienen bei Melsungen soll nun ein Jahr lang laufen. Bewährt sich die Technik, könnte sie auch an anderen Strecken eingesetzt werden. Den Abschnitt auf der Schnellfahrstrecke Würzburg-Hannover habe man ausgewählt, weil dort tagsüber etwa alle halbe Stunde ein ICE drüberrauscht, erklärte eine Bahnsprecherin. In der Nacht nutzen viele Güterzüge die in den Achtzigerjahren errichtete Trasse. Zudem liege die 812 Meter lange und 14 Meter breite Spannbetonhohlkastenbrücke so exponiert, dass sie fast den gesamten Tag über von der Sonne beschienen wird.

Versuche auf einem Testgelände in Sachsen-Anhalt hatten zuvor gezeigt, dass der weiße Anstrich die Schienen um sechs bis acht Grad Celsius abkühlt, ähnliche Ergebnisse hatten Tests der ÖBB erzielt. Auch in Würzburg wurden in diesem Sommer schon Straßenbahnschienen weiß getüncht, ebenso bei der Rhätischen Bahn in der Schweiz. Die Probeläufe der DB in Nordhessen und der Österreicher in Vorarlberg sollen zeigen, wie lange so ein Anstrich unter Dauerbelastung hält und wie oft gegebenenfalls die Arbeitertrupps zum Nachweißeln anrücken müssen.

Kettensägenausbildung bei der Rheinbahn

Die DB stellt sich auch anderweitig auf die veränderten klimatischen Bedingungen ein und hat sogar eine Art Expertengruppe zusammengerufen, die sich mit den daraus resultierenden Herausforderungen im Schienennetz auseinandersetzen soll. "Unwetter mit schweren Stürmen und lange heiße Sommer werden weiter zunehmen", sagt die Geografin Karoline Meßenzehl, die der Expertengruppe angehört. Auch starker Regen oder schwere Schneefälle zählen zu diesen Szenarien. Die Bahn will deshalb unter anderem ihr sogenanntes "Vegetationsmanagement" ausbauen und stellt bis zum Jahr 2024 nach eigenen Angaben etwa 660 Millionen Euro für Grünarbeiten entlang der Schienen zur Verfügung - 160 Millionen Euro mehr als ursprünglich geplant -, um unter anderem im gesamten Schienennetz sechs Meter links und rechts der Gleise die Bäume zurückschneiden zu lassen. Mitunter kommen dabei sogar Hubschrauber zum Einsatz, um beispielsweise in unzugänglichen Steilhängen die Vegetation zurückzudrängen.

Fahrgastverbände fordern darüber hinaus immer wieder, dass der Konzern mehr Schneepflüge vorhält sowie zusätzliche Weichenheizungen einbaut, um im Winter Störungen zu begrenzen. Auch Nahverkehrsbetriebe richten sich auf eine Häufung von Extremwetterereignissen ein: In Düsseldorf zum Beispiel spendierte die Rheinbahn einigen Bediensteten eine Kettensägenausbildung, damit diese etwa nach einem Sturm die Kräfte der Feuerwehr unterstützen können.

Lokführer berichten indes, dass sie die weißen Schienen auf der Schnellfahrstrecke zwischen Würzburg und Hannover zwar schon gesehen haben, aber im täglichen Betrieb kaum wahrnehmen. Sie achten mehr auf die Anzeigen im Führerstand, die Signale an der Strecke - und richteten den Blick ohnehin eher nach oben, auf die Oberleitung, denn nach unten ins Gleis. Sollte dort oben ein Problem auftauchen, lässt sich noch schnell der "Bügel ab"-Knopf drücken und ein größeres Malheur verhindern.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir die Länge der Pfieffetalbrücke fälschlicherweise mit 61 Metern angegeben. Richtig ist, dass die Brücke eine Höhe von 61 Metern hat, jedoch 812 Meter lang ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4615118
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.09.2019/cku/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.