Autos, die das Herz bewegten (16): VW K70:Kult und Kante

Rundumsicht wie im Glashaus, nur Linien, Flächen und Kanten: Der VW K70 war Papas futuristisches Manifest

Jochen Wagner

Mit 50 km/h in die Einfahrt - oh, wie er sich neigte in dem 90-Grad-Rechtsknick von der kleinen Straße hinein in den Vorgarten vom Siedlungshaus, wie ein Pendolino, aber die Reifen blieben am Boden. Der Kahn in Mayabraun Metallic war nach dem 1300er-VW-Käfer Papas futuristisches Manifest: 90 PS, Doppelscheinwerfer, Sportfelgen, Scheibenbremsen vorne, L-Ausführung, Schiebedach, beheizbare Heckscheibe und zum Radio ein Kassettenrecorder.

VW K70

Fortschritt in den Siebzigern: Rundumsicht wie im Glashaus, Frontantrieb und Einzelradaufhängung.

(Foto: Foto: VW)

Form, Funktion, Finish

Somit endlich auch outdoor mit Woodstock-Musik gestützt, drehten wir den Vierzylinder unersättlich. Oben raus kreischte er wie die Fender Stratocaster von Jimi Hendrix, die wir zeitgleich 1973 aus Ferienjobs und Autowaschen in der VW-Werkstatt am Eck zusammensparten.

Schon auf nächtlichen Schwarzfahrten war der Drehzahlmesser unser Verbündeter zum Turnaround "um den Stock". So nannten wir die paar Straßenzüge ums Zuhause. Im 1. Gang waren es 50, der 2. ging bis 90, der 3. schaffte 130und der 4. zitterte auf 180 Sachen. Aber die Endspitze erlebten wir natürlich nur als Zuschauer im Heck, wenn der Vater sich die Kante gab. Oder wenn er unsere vierköpfige Band zu einem kleinen Auftritt fuhr. Wir fanden samt der kompletten Verstärker-Anlage nebst Schlagzeug im riesigen Raumangebot von Volant und Kofferraum Platz.

Der K70 war einfach total anders als alles, was sonst Väter von Kumpels und Mitschülern fuhren - Opel Ascona oder Rekord, auch Senator, sogar Admiral und Diplomat, diverse Fords, ein 280er Mercedes, 2000er BMW und auch ein Alfa Giulia. War der Käfer eine geknautschte Kugel, so der K70 ein avantgardistischer Keil. Vermessen würde ich heute sagen: Er war das fehlende Glied einer Evolution vom Volkswagen zum Lamborghini Gallardo, vom boxenden Rollin' Stone zum vielzylindrig rasenden Pfeil. Aus gemütlich wurde hurtig.

Kult und Kante

Der wassergekühlte Frontantriebler war nicht wirklich eine Schachtel oder ein motorisierter Ziegelstein. Er war mit der dezent gesenkten Schnauze und dem kurzen, fast keck geschürzten Heck das veloziferische Urmodell neuer Sachlichkeit: Form, Funktion, Finish.

VW K70

Urmodell neuer Sachlichkeit: Die fast aristokratisch minimalistische Form, schlicht und übersichtlich, ohne Schwulst und Chrom, gefällt noch heute. Die frühen Viereckleuchten wurden 1972 gegen sportliche Doppelscheinwerfer ausgetauscht. Die Einzelradaufhängung galt als besonders fortschrittlich damals.

(Foto: Foto: VW)

Le Corbusier hätte ihn sicher gefahren. Oder Adolf Loos, denn welches Auto beherzigte seine Parole, "Ornament ist Verbrechen" bis heute diätischer? Schlicht, übersichtlich, nur Linien, Flächen, Kanten, ohne Kurven, Schwulst, Schnörkel oder Chrom, außer für die zwei Außenspiegel und ein paar Zierleisten.

Eine Rundumsicht wie im Glashaus, auch beim Einparken, alles sah man. Und so wurde man auch gesehen, eher ein bisschen steif aufrecht sitzend denn sportlich. Versteift musste der Körper auch sein, boten doch die (umklappbaren!) Sitze des Viertürers außer Kopfstützen, keinerlei seitlichen Halt. Dabei hatten wir mit den groben anthrazitenen Stoffbezügen noch Glück, denn die sonst verbauten Kunstlederschatullen begrüßten den Popometer wie Schmierseife.

90 PS: endlich Stoff für Speed!

All das aber kümmerte uns nicht. Nach dem eher müden Käfer, und von Herbie-Kultgefühlen war bei uns mit Hubraum und Leistung wetteifernden Autoquartettsüchteln ja nix zu spüren, waren 90 PS endlich Stoff für Speed. Uns war der K70 eine sensitive Rakete, die es mit der Linken am dürren Lenkrad und mit der Rechten am aus dem Boden ragenden Schaltstock zu bändigen galt.

Wer mit dem K70 einmal getanzt hat, weiß, dass hier eine Schiffschaukel von der Kirmes einen Motor bekommen hatte. Denn er war auch nicht leicht, aus hunderten Blechen zusammengeschweißt, dafür verhältnismäßig stabil. Er passte irgendwie zu einer Nürnberger Kindheit im 20. Jahrhundert, der K70 als schräger Event zum Flair der Siebziger aus Fußball-WM in Mexiko, EM 1972 mit Ramba-Zamba Beckenbauer und Netzer, Terroristenfahndung und Ten Years After in der Noris, die zur Dauerpassion der Glubb-Fußballer erste Königswellen-Ducatis, sportliche Moto Guzzis, aber mehr noch Honda CB 750 Four, Yamaha RDs, Kawas und Suzis vermeldete.

Aber wie kam es zu dieser Revolution für Spießer im Wolfsburger Konzern, der bis dahin nur luftgekühlte Käfer oder Heckboxer-Panzer wie den VW 411 geklont und in Ingolstadt einen ersten 100er-Audi hatte? Ein Vorstandsbeschluss bei NSU Neckarsulm im Januar 1965 hieß Entwicklungschef Ewald Praxl und Designer Claus Luthe, eine viertürige Limousine mit Stufenheck und als dreitürigen Kombi zu entwickeln.

Eine Rundumsicht wie im Glashaus

Dem im Juli 1965 präsentierten Typ X I folgte deutlich trendverändert auf Basis des NSU 110 schon im Oktober der X II mit Frontmotor und -antrieb. Claus Luthe, berühmter noch durch den cw-optimierten, zeitlos schönen Ro80, die formensprachliche Antizipation schier aller modernen Autos, und später in Diensten von BMW, erhielt schon mit dem 1:1-Holzmodell des Typs X III die Konstruktionsfreigabe.

Im März 1967 ging der Typ 86 erstmals in den Windkanal und erste Probefahrten des Prototyps folgten im Dezember. Wegen des Verkaufs des NSU-Werks an VW musste freilich die für den Genfer Salon 1969 geplante Vorstellung auf September 1970 verschoben werden. Doch dann war es soweit: Der K70 wurde vom VW-Konzern - bei bleibendem Konzept, doch mit größeren Rädern - produziert, und schon 1971 mit spürbarer Geräuschdämpfung, exakterem Getriebe, am Armaturenbrett modifiziert, im Detail und in der Zuverlässigkeit verbessert.

Der nicht eben spritzige 1,6-Liter-ohc-Motor mit 75 PS ließ einen gern zum 90-PS-Pendant greifen. Gegenüber den ersten Viereck-Strahlern waren ab 1972 die Doppelscheinwerfer im schwarzen Grill, den ursprünglich kein VW-Logo zierte, optional unterstützt von Nebelscheinwerfern unter der Stoßstange, schick und modern zugleich.

Im Herbst 1972 war zudem die Karosserie am eingezogenen Bug und der dezent verjüngten Vorderpartie stilistisch nochmals verfeinert worden. Für die Besonderheit der zwei innen an den Antriebswellen liegenden Bremsscheiben, was die ungefederten Massen in den Vorderrädern deutlich verringerte, wurde am vorderen Abschlussblech die Luftkühlung optimiert. Im Juli 1973 erschien eine 1,8-Liter-Maschine mit 100 PS, deren Kopf auch auf den 90 PS Motor passte - was für unseren Schlitten daheim natürlich eine unwiderstehliche Verlockung war.

Kult und Kante

Derart frisiert waren auch die gegossenen, silberfarbenen Alu-Leichtmetallräder von Kolbenschmitt richtig schmuck, die den geschmiedeten Fuchs-Felgen für den Ro80 optisch zum Verwechseln ähnlich sahen. Manches LS-Modell zierte sogar ein konisch verlaufender schwarzer Rallye-Streifen an der Seite und quer am Heck.

Hatte man die Einstellung der diffizilen Solex-Vergaser halbwegs hingekriegt - wir experimentierten sogar mal mit Weber-Doppelvergasern -, lief der K70 ganz passabel. Mit vierfacher Einzelradaufhängung und jeweiligen Feder-Dämpfersystemen war das Fahrwerk ohnehin sehr fortschrittlich. Ein wirkliches Kleinod war der dezente Tankverschluss, rechts hinter der rückwärtigen Tür, mit einer kleinen, drehbaren Hartgummi-Lippe für das Schloss. Den K70 sportlich gedroschen, bediente man das Schlüsselchen bei bis zu 13 Liter Super auf 100 Kilometer entsprechend geübt. Wir sparten demgemäß auch an den leicht zugänglichen Zündkerzen sowie am aufkommenden Vollsynthetiköl nicht. Schier unverwüstlich hat uns so der K70 auf mehr als 200.000 Kilometer durch Europa kutschiert. Cool war er bis zuletzt, als 1988 der Rost dem sonst intakten Gefährt den TÜV-Segen kostete.

Er ist selten geworden

Heute sieht man ihn kaum noch, dabei wurden bis Mai 1975 genau 210.082 Exemplare, wahlweise in den sechs Modellvarianten als K70 und K70 L mit 75und 90 PS sowie als K70 S und LS mit 100 PS, gebaut. Das Konzept vereinte eine bis heute singuläre, fast aristokratisch minimalistische Form mit Komfort und Sportlichkeit. Klare, straffe Linienführung, kompakte Proportionen, bei denen der flache Bug und das kurze Heck auch als Knautschzonen für die passive Sicherheit dienten. Eine tiefliegende Gürtellinie, große Glasflächen und voll versenkbare handkurbelmechanische Scheiben sind bis heute Standard. Man konnte ihn mit seinem Superradstand von 269 Zentimeter wirklich scharf um die Kurven wuchten.

So richtig Kult ist der K70 dennoch nie geworden. Mochte das ungeliebte Kind des Konzerns mal als handgeschnitzter Variant, als schwarzes oder cremefarbenes Taxi, als Mannheimer Feuerwehrauto oder als aufgeschnittenes Cabriolet herhalten - genau besehen stecken doch alle VW-Folgemodelle vom Golf, Scirocco, Jetta oder Passat schon inkognito in ihm. Aber wer möchte das heute zugeben?

Nichtsdestoweniger gibt es eine kleine Schar treuer Enthusiasten. Aus der K70-Interessensgemeinschaft vom Oktober 1988 wurde im Juni 1990 der internationale K70-Club gegründet. Seine Kontakte reichen bis Japan und USA, Australien wie Neuseeland, Südafrika oder Israel. 130 Mitglieder sorgen sich, bei einem Jahresbeitrag von 30 Euro, rührig um den eckigen Exoten. In den Achtzigern konnte man einen K70 noch für ein paar Hunderter ergattern. Heute sind sie so rar, dass gut erhaltene Modelle schon an die 2000 Euro kosten.

Wer einen K70 restaurieren will, muss erstens wissen: Der Ersatzteilemarkt ist höchst knapp bemessen, zumal der VW-Konzern viele Teile des intern verschmähten Vierzylinders einfach verschrottet hat. Zweitens: Der K70 ist so eigen, dass von anderen Fabrikaten kaum etwas kompatibel ist. Drittens: Dass allein der Vorderbau aus 35 Blechen verschweißt und ein Neuaufbau der Karosserie enorm aufwendig ist. Viertens: Dass der K70-Club dennoch jedem gern hilft.

Ja, ich vermisse ihn auch, den Bewegungstriebverstärker meiner Jugend. Der K70, ein mobiles Ding, das die Logik des Marktes auf den Kopf stellen kann: Wer liebt, tauscht nicht.

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