Süddeutsche Zeitung

Autonomes Fahren:Der Roboter von nebenan

Deutschland will vollautonome Autos noch vor Großbritannien, den USA und China als reguläre Verkehrsteilnehmer zulassen. Wer gewinnt den Technologie-Wettlauf - und zu welchem Preis?

Von Joachim Becker

Bertha Benz brauchte zwölf Stunden von Mannheim nach Pforzheim. Die erste Langstreckenfahrt im knatternden Dreirad bewies vor allem eins: Die junge Automobiltechnik kam 1888 schneller voran, als gedacht. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Automatisierte Fahrsysteme kommen in der öffentlichen Diskussion nicht vor. Dabei kann die neue Mercedes S-Klasse ihre Passagiere vom nächsten Jahr an per Computer chauffieren. Mit dem Drive Pilot darf der Fahrer auf Autobahnen (unter gewissen Bedingungen) die Hände dauerhaft vom Steuer lassen.

Ist das der Bertha-Benz-Moment des autonomen Fahrens? Schon 2013 wiederholte eine freihändig fahrende S-Klasse die gut 100 Kilometer lange Tour von Mannheim nach Pforzheim. Der Prototyp könne "hochkomplexe Situationen mit seriennaher Technik meistern - mit Ampeln, Kreisverkehren, Fußgängern, Radfahrern und Straßenbahnen", prahlten die Stuttgarter damals. Möglich war diese Schönwetterfahrt aber nur mit einer Testzulassung und einem Sicherheitsfahrer hinter dem Steuer. Erst seit März 2016 sind automatisierte Systeme nach dem Wiener Übereinkommen prinzipiell erlaubt. Ganz ohne Fahrer geht es aber (noch) nicht, er muss den elektronischen Chauffeur überwachen. Bis Ende des Jahres will das Bundesverkehrsministerium mit einem Gesetz für komplett führerlose Fahrzeuge weltweit vorpreschen: "Auf eine internationale Regelung zu warten, ist keine Alternative, weil es die führende Position Deutschlands bei der Entwicklung automatisierter, autonomer und vernetzter Fahrzeuge gefährdet", heißt es aus dem Ministerium.

Deutschland als Testlabor

Deutschland soll von 2022 an mit einer Vielzahl von Fahrrobotern zum großen Testlabor werden. "Es ist wichtig, dass wir den Anschluss an die relativ offene Regulierung in den USA und China nicht verlieren", sagte Herbert Diess nach dem jüngsten "Autogipfel" am Dienstag in Berlin. Um den VW-Konzernchef zu verstehen, muss man die regulatorischen Unterschiede kennen. "Man muss zunächst zwei Dinge auseinander halten", erklärt Tina Kirschner, die bei Mercedes für die Zertifizierung des automatisierten Fahrens zuständig ist: "Das eine sind Testzulassungen, die zum Beispiel von den jeweiligen Regierungspräsidien erteilt werden. Da haben wir noch keine einheitliche Regelung in Deutschland oder Europa." Anders sehe es bei den technischen Vorgaben aus. Die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) hat im Juli zum Beispiel ein Tempolimit von 60 km/h im hoch automatisierten Modus festgelegt. China und die USA sind an diese UN-Richtlinien allerdings nicht gebunden. Auch die britische Regierung will womöglich einen Sonderweg einschlagen. Nach dem Brexit könnte sie sich auch von den UNECE-Vorgaben verabschieden und das Automatisierungs-Level 3 bis Tempo 110 freigeben.

"Großbritannien ist auf dem Weg, eine führende Position bei intelligenten und automatisierten Fahrzeug- und Verkehrsmanagementtechnologien einzunehmen - einem riesigen Bereich, der Tausende von Arbeitsplätzen schaffen wird", jubelte der britische Verkehrsminister George Freeman im Februar dieses Jahres. Anlass war die "längste und komplexeste Reise eines autonom fahrenden Autos": Ein umgebauter Nissan Leaf war 370 Kilometer auf Autobahnen und Landstraßen quer durch England gefahren. Wieder ein nationaler Triumph und ein neues Kapitel im Geschichtsbuch? Sowohl Fußgänger als auch Radfahrer waren bei dieser Fernfahrt allerdings nicht zugegen. "Wir haben uns bei dem Human-Drive-Projekt unter anderem auf die Interaktion in Kreisverkehren konzentriert", sagt Nissan-Projektleiter Bob Bateman. Mit Erfolg: Das selbstfahrende System brauchte nur bei einem Prozent der Situationen die Hilfe des Sicherheitsfahrers. Aber reicht das für den Serieneinsatz?

Es geht nicht nur um Sicherheitsfragen, sondern auch um den Technologie-Wettbewerb der Nationen: "Amerikas Führungsrolle bei automatisierten Fahrzeugtechnologien sichern", überschreibt die U.S. National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) ihre jüngste Studie "Automatisierte Fahrzeuge 4.0". Angesichts dieses Tech-Nationalismus ist es durchaus gewollt, dass Autohersteller wie Tesla ihre hoch automatisierte Fahrzeugtechnik in den USA (je nach US-Bundesstaat) selbst zertifizieren können. "Wenn wir zu früh regulieren, haben wir die reale Gefahr, weitere Innovationen einzufrieren", sagt Jonathan Morrison, leitender Rechtsexperte der NHTSA: "Wir wissen vielleicht noch gar nicht, wo die sicherheitskritischen Aspekte und die geeignete Prüf-Matrix liegen." Eine zu frühe Regulierung könne den entgegengesetzten Effekt, also höhere Sicherheitsrisiken, erzeugen, so Morrison auf einer Konferenz vor wenigen Wochen.

Wie bei Bertha Benz vor 133 Jahren ist die Technik dem Gesetzgeber voraus. Derzeit gibt es weder ein nationales Straßenverkehrsrecht für die vollautonomen Fahrzeuge noch einheitliche europäische Vorgaben für die Typprüfung. Ohne verbindliche technische Standards tragen auch die Robot-Pioniere in den USA das volle Haftungsrisiko, wenn etwas schiefgeht: "Wir engagieren uns aggressiv, wenn es Unfälle oder Beschwerden von Seiten der Kunden gibt", stellt Jonathan Morrison klar. Diese Form von Marktüberwachung, bei der Fahrzeuge aus dem Bestand gekauft und genauestens überprüft werden, hat sich beim Diesel-Abgasbetrug bewährt: Die Software-Tricks fielen nicht etwa den Technischen Diensten auf, die an der Typzulassung in Europa beteiligt waren, sondern zuerst US-Organisationen.

Doch wie soll diese Form des Verbraucherschutzes funktionieren, wenn die Software von selbstfahrenden Systemen um ein Vielfaches komplizierter ist als bei herkömmlichen Autos - und zudem noch ständig verändert wird? Mit Updates für den Autopiloten agiert Tesla schon heute (in Europa) in einer gesetzlichen Grauzone.

Nissan bietet in Japan bereits einen Autobahnpiloten an, der dem Fahrer unter gewissen Umständen das Lenken abnehmen kann. Der Pro Pilot 2.0 bleibt aber ein Assistenzsystem: maßgeschneidert für die Besonderheiten der japanischen Fernstraßen, die oft einspurig, aber baulich von der Gegenfahrbahn getrennt sind. An dem weiterführenden Human-Drive-Projekt haben 135 Experten 33 Monate lang gearbeitet. Sie machten den Nissan-Leaf-Prototypen mit 36 000 Zeilen Softwarecode schlauer. Aber wie viele Programmier-Zeilen bräuchte man, um die Welt jenseits einer ausgewählten Testumgebung zu erfassen? Nur zum Vergleich: Allein das Infotainment-System der neuen Mercedes S-Klasse beinhaltet rund 30 Millionen Zeilen Softwarecode - viele davon benötigt der Sprachassistent, um seinen Fahrer zu verstehen. Bei der Bildverarbeitung ist die Komplexität aber um ein Vielfaches höher.

"Das ist die Frage, vor der die Industrie steht: Wie viel Technik und damit Geld investiere ich ins Fahrzeug, um die Haftungsrisiken zu minimieren", erläutert Georg Kopetz, Mitgründer und Geschäftsführer des Software-Spezialisten TTTech: "Oder aus Sicht des Gesetzgebers: Wo ist der Stand der Technik, um ein System damit zu vergleichen und zu sagen: Das ist gut genug, um es zuzulassen." Um solche Fragen zu diskutieren und Referenzlösungen für die sichere autonome Mobilität zu finden, müssen sich alle Beteiligten über Ländergrenzen hinweg verständigen. Ein Forum dafür sind die Konferenzen von The Autonomous, an der sich auch die deutschen Autohersteller und Systemlieferanten intensiv beteiligen. "Ich meine, der technische Diskurs muss in der Fachöffentlichkeit weiter intensiviert werden", so Kopetz, "der Zuspruch bei unseren Fachveranstaltungen zur Elektronik-Architektur, Künstlichen Intelligenz, Cybersecurity und Regulierung war groß. Aber wir brauchen noch Zeit für einen Grundkonsens, auf den sich die Industrie verständigt."

Mit anderen Worten: Jeder Hersteller und jedes Land gehen erst einmal getrennte Wege - auch wenn das enorm viel Geld und womöglich mehr Menschenleben im Straßenverkehr kostet als nötig.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2020/ihe
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