Autonomes Fahren:Wie es ist, im Bus ohne Lenkrad mitzufahren

Autonom fahrender Bus Smartshuttle in Sitten in der Schweiz

Die gelbe, autonom fahrende Plastikbox namens Smartshuttle tourt im Auftrag der Postauto AG durch Sitten in der Schweiz.

(Foto: Steve Przybilla)

Ein autonom fahrender Bus kurvt durch den Schweizer Ort Sitten. Nicht jeder Passagier ist begeistert vom Smartshuttle. Und einen Unfall gab es auch schon.

Von Steve Przybilla

Sie sieht schon lustig aus, diese quietschgelbe Plastikbox. Nur wirkt sie hier, inmitten der mittelalterlichen Stadtkulisse, merkwürdig deplatziert. Auf der Rue du Grand-Pont reiht sich ein Altbau an den nächsten. Beigefarbene Fensterläden funkeln in der Sonne, im Hintergrund ragen die Alpen in den Himmel. Und dazwischen dieser Fremdkörper, der gemächlich übers Kopfsteinpflaster rollt.

Gemeint ist ein elektrischer Mini-Bus, der seit Juni 2016 in der Schweizer Kleinstadt Sitten (Kanton Wallis) verkehrt. Das "Smartshuttle" ist tatsächlich ziemlich clever, denn es kommt komplett ohne Fahrer aus. Im Stil eines Google-Autos kutschiert es Passagiere autonom durch die engen Gassen von Sitten - vorerst kostenlos.

Organisiert wird das Experiment von der Postauto AG, einem Tochterunternehmen der Schweizer Post, das etwa 850 Buslinien im In- und Ausland betreibt. Falls alles gut geht, könnte der Versuch den Auftakt zu einem viel größeren Vorhaben markieren: den Einstieg in den autonomen öffentlichen Nahverkehr. Nicht nur die Schweizer experimentieren damit: Die Deutsche Bahn (DB) testet mehrere autonome Kleinbusse, in Mannheim drehte Anfang Januar ein Fahrzeug zu Werbezwecken ein paar Runden um den historischen Wasserturm in der Innenstadt.

Als das Smartshuttle in Sitten vor dem Rathaus hält, bleiben Passanten kurz stehen. Die meisten haben die gelbe Box schon mal gesehen, und doch bleibt die Neugier: ein Fahrzeug, in dem es kein Lenkrad mehr gibt! Gesteuert wie von Geisterhand. Faszinierend und unheimlich zugleich. Im Inneren sieht das Shuttle zunächst einmal wie jeder andere Bus aus: elf Plastiksitze, diverse Halteschlaufen und -stangen. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich die Besonderheiten: Über der Frontscheibe hängt eine Tastatur, an der Wand ein berührungsempfindlicher Bildschirm. Daneben, fast schon beruhigend, ein roter Nothalte-Knopf. Falls alles schiefgeht, kann der Mensch den Roboter also immer noch stoppen.

Noch überwacht der Mensch die Technik

An Bord dann die erste Überraschung: Das Smartshuttle fährt gar nicht ohne Fahrer. Zwar navigiert der Minibus selbstständig durch die Stadt, neben dem Monitor steht aber immer noch ein Mensch, der die Technik überwacht. Und daneben eine weitere Mitarbeiterin, die ein- und aussteigende Fahrgäste zählt. Viel zu tun hat sie in diesem Moment nicht, weil die meisten Einwohner am frühen Nachmittag noch bei der Arbeit sind. Kurz bevor sich die elektrischen Türen schließen, füllt sich der Fahrgastraum dann aber doch noch. Zwei junge Männer hasten auf die vorderen Plätze. Ein älterer Herr mustert kritisch den Touchscreen, bevor er sich setzt. Eine Frau mittleren Alters steigt ein, befestigt zwei mobile Videokameras, und steigt wortlos wieder aus. "Das erste Mal an Bord?", fragt der Begleiter. Alle nicken.

Mit einem leisen Surren kommt der Elektromotor in Gang. Kein Piepsen, keine Ansage, kein Schnickschnack. Der autonome Bus rollt fast unscheinbar durch die belebte Altstadt. Mehr als 15 Stundenkilometer fährt er nicht, allein schon aus Sicherheitsgründen. Immer wieder bleiben Passanten stehen und zücken ihre Handys. Sobald jemand im Weg steht, tritt der Computer abrupt auf die Bremse. Danach tastet er sich langsam voran. Anfahren. Bremsen. Anfahren. Obwohl das Smartshuttle nur Schritttempo fährt, ist das Ruckeln deutlich zu spüren.

Solche Kinderkrankheiten seien ganz normal, beteuert Jürg Michel, der zuständige Postauto-Projektleiter. "Wir stehen mit unserem Versuch erst ganz am Anfang. Plug-and-play ist bei einem solch komplexen System einfach nicht möglich." Überhaupt sei die Umgebung alles andere als ideal: die engen Gassen, die vielen Fußgänger, dazu Lieferverkehr, Radfahrer, Kinderwagen, parkende Autos. Und Baustellen. "Wenn eine Straße gesperrt wird, können wir den Bus nicht einfach umleiten", sagt Michel, denn jede Straße muss zuvor als 3-D-Modell in das System geladen werden. Als im Advent der Weihnachtsmarkt in Sitten losging, musste das Smartshuttle plötzlich eine andere Route fahren - und verbrachte während der Neu-Programmierung erst mal ein paar Tage in der Garage.

Der autonom fahrende Bus hatte bereits einen Unfall

Ob sich autonome Fahrzeuge langfristig in den Linienverkehr integrieren lassen, weiß Michel noch nicht. Rechtlich gibt es allerlei Hürden. So darf das Smartshuttle nur mit einer Ausnahmegenehmigung durch Sitten fahren. Auch in den meisten anderen Ländern sind autonome Fahrzeuge im Straßenverkehr bislang nicht zugelassen. Der Hersteller des selbstfahrenden E-Busses, das französische Start-up Navya, macht daraus kein Geheimnis. Aber: Bis es eine Gesetzesänderung gibt, eigneten sich "geschlossene Umgebungen" wie Universitäten oder Industrie-Areale perfekt für das Fahrzeug, heißt es in der Produktbeschreibung. Im französischen Civeaux (Region Nouvelle-Aquitaine) seien bereits sechs Fahrzeuge auf dem Gelände des dortigen Atomkraftwerks unterwegs.

Im normalen Straßenverkehr sind die Behörden indes sehr skeptisch. Im Juli 2016 kam ein Tesla-Fahrer in Florida in seinem selbstfahrenden Sportwagen ums Leben, nachdem der Autopilot einen einbiegenden Lkw übersehen hatte. Auch das Smartshuttle hatte schon einen - wenn auch marginalen - Unfall: Bei der Fahrt durch die Altstadt touchierte der Bus die geöffnete Heckklappe eines Lieferwagens. "Unglückliche Umstände", sagt Projektleiter Michel. "Die Sensoren haben das Hindernis falsch interpretiert." Ernsthafte Schäden gab es nicht, aber der 240 000 Euro teure Bus wurde zum Hersteller zurückbeordert: Software-Update, Einspeisung neuer Hindernisse.

Ein Fahrgast ist gar nicht begeistert

Nach weniger als zehn Minuten ist die Rundfahrt vorbei. Der Computer hat alles richtig gemacht, Kollisionen gab es keine. Die Frau, die zuvor ihre Videokameras befestigt hatte, baut ihre Geräte nun wieder ab. Sie heißt Grace Eden und arbeitet als Marktforscherin für das Smartshuttle-Projekt. Im Auftrag der Postauto AG befragt sie Fahrgäste nach ihrer Zufriedenheit. Was war das Beste an der Fahrt? Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf? Würden Sie auch mitfahren, wenn kein Begleiter mehr an Bord wäre? Auf einem Klemmbrett hat Eden alle Fragen gesammelt. Zusätzlich filmt sie ihre Testpersonen.

Ein älterer Herr lässt sich auf die Umfrage ein. Er heißt Gary Leonard, kommt ursprünglich aus Großbritannien, lebt aber schon seit Jahrzehnten in der Schweiz. In einem Café beantwortet er die Fragen der Wissenschaftlerin. "Der Bus hat bei jeder Kleinigkeit überreagiert", findet der 63-Jährige. "Insgesamt war die Fahrt nicht sehr komfortabel." Sein Vorschlag: Die Maschine sollte von einem echten Fahrer lernen. Extra bezahlen würde er für das neuartige Verkehrsmittel jedenfalls nicht. "Als Teil des öffentlichen Nahverkehrs wäre das schon okay", findet Testfahrer Leonard. "Aber dann sollten wenigstens die Betriebszeiten stimmen." Noch verkehrt das Smartshuttle durch Sitten nur ein paar Stunden am Tag.

Mit seinem Urteil steht Gary Leonard ziemlich allein, zumindest an diesem Nachmittag. Die meisten anderen Passagiere zeigen sich begeistert von dem Bus ohne Lenkrad, der früher oder später auch nach Deutschland kommen könnte. Wie der Chef der Hamburger Hochbahn, Henrik Falk, kürzlich erklärte, sollen autonome Busse bald auch in der Hafenstadt verkehren. "In der Zukunft werden diese Fahrzeuge wahrscheinlich wie selbstverständlich zum Stadtbild dazu gehören", glaubt Falk.

Zur Not übernimmt die X-Box-Steuerung

Seit Dezember 2016 experimentiert zudem die DB in Berlin und Leipzig mit einem ähnlichen Gefährt, das allerdings vom amerikanischen Start-up Local Motors stammt. Dass auch große Unternehmen wie die DB bei solchen Versuchen mitmachen, zeigt, welches Potenzial sie im autonomen Nahverkehr sehen - trotz der technischen und juristischen Hürden. "Wir wollen vorbereitet sein, wenn es mal soweit ist", formuliert es der Schweizer Projektleiter Jürg Michel. Noch ist dafür ausreichend Zeit: In Sitten läuft das Experiment bis Oktober 2017.

Zurück im Bus fragt eine junge Frau, ob man das Smartshuttle im Notfall auch per Hand steuern kann. Der Begleiter lächelt und nimmt ein Steuergerät in die Hand: "Das ist ein ganz normaler X-Box-Controller", erklärt er. "Damit lässt sich der Bus kinderleicht steuern." Nur Gary Leonard, der 63-jährige Exil-Brite, ist von dem modernen Kram wenig begeistert. Auf die Frage, was er an der Fahrt am besten fand, hat er eine klare Antwort: "Auszusteigen."

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