Autonomes Fahren:Wie Autohersteller zu Mobilitätsdienstleistern werden wollen

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Die Mobilitätskonzepte der Zukunft gehen weit über das heute schon gut funktionierende Carsharing hinaus. (Foto: David Ulrich I photo&retouch; BMW Group)
  • Der Platz für individuelle Mobilität in großen Städten wird immer kleiner.
  • Die Autohersteller entwickeln deshalb Strategien, wie die innerstädtische Mobilität der Zukunft aussieht.
  • Autonomes Fahren spielt dabei eine große Rolle. So könnten vor allem hochautomatisierte Ruftaxis einen Großteil des Mobilitätsbedarfs abdecken.

Analyse von Joachim Becker

Stockholm im Jahr 2030. In Schwedens Hauptstadt prägen Robotertaxis das Straßenbild. Parken ist zum Luxus geworden - genau wie das eigene Auto. Vorbei die Zeiten, als Stockholm zu den acht europäischen Städten mit den meisten Staus gehörte. Dank der umsichtigen Computerautos fließt der Verkehr störungsfreier als zuvor.

Was als Utopie erscheint, lässt sich schon heute berechnen: 90 Prozent aller Personenwagen und Parkplätze könnten überflüssig werden - wenn die Stockholmer bereit wären, die autonomen Autos mit anderen zu teilen. Ridesharing heißt das Zauberwort. Selbst BMW-Chef Harald Krüger sieht für die smarte Mitfahrmobilität eine große Zukunft voraus. "Mit der Strategie Number One Next blicken wir bis ins Jahr 2025. Wir wollen das mobile Leben unserer Kunden vereinfachen und ihren Komfort erhöhen. So ist neben dem bestehenden Carsharing auch ein Premium-Ridesharing-Service denkbar", erklärte Krüger in seiner Strategierede zum hundertsten Firmengeburtstag.

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"Die Neuerfindung des Automobils"

Noch in diesem Jahr will BMW den nächsten Schritt zum Carsharing 2.0 gehen. Unter dem Namen Reach Now werden zunächst in den USA neue Mobilitätsservices angeboten: Der Kunde kann sich das Sharing-Fahrzeug bringen lassen und für eine Reise mehrere Tage lang nutzen. Mittelfristig sollen sich auch private BMW i3 oder Mini über Reach Now vermieten lassen, um die Unterhaltskosten zu senken. Für 2021 hat BMW das erste vollautonome BMW i Modell ankündigt.

Noch ist aber nicht ausgemacht, wer das Roboterrennen gewinnen wird. Die Volumenhersteller wollen sich nicht so schnell abhängen lassen: "Wir geben mit dem Thema autonomes Fahren im VW-Konzern extrem Gas und investieren viel Geld. Was wir in den nächsten fünf bis sieben Jahren erleben werden, ist die Neuerfindung des Automobils", verkündete Johann Jungwirth vergangene Woche auf dem Kongress "Mobilität der Zukunft" des Fachmagazins Auto Motor und Sport. Der 43-Jährige leitete bis 2014 das Mercedes-Technologiezentrum im Silicon Valley. Dann ging Jungwirth als Direktor für Special Projects zu Apple und war dort entscheidend am Autoprojekt Titan beteiligt. Nun berichtet er als Leiter der Digitalisierungsstrategie von Volkswagen direkt an Konzernboss Matthias Müller.

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45 Minuten dauert im Durchschnitt eine Fahrt mit einem geteilten Auto, 15 Minuten davon sucht der Kunde einen Parkplatz. Das ist lästig. Trotzdem steigen die Nutzerzahlen.

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Kürzere Fahrzeiten im autonomen Ruftaxi

Typisch für den Ex-Kalifornier (und früheren Tesla-Fahrer) Jungwirth ist, dass er sich nicht nur um die automobile Hard- und Software kümmert, sondern auch die sozialen Netzwerke und die Stadtentwicklung im Blick hat: "Es ist enorm, wie viel wertvolle Flächen in den Innenstädten für Parken verwendet werden", so Jungwirth: Viele dieser Abstellplätze würden künftig überflüssig, weil die Automaten ohne Lenkrad und Pedale ununterbrochen fahren sollen. "Wir haben Simulationen gemacht, die zeigen, dass wir nur ein Siebtel der Fahrzeuge im Stadtgebiet bräuchten, um die gewohnte Verfügbarkeit (quality of service) mit bis zu fünf Minuten Wartezeit zu gewährleisten", erläuterte Jungwirth auf dem Podium in Stuttgart.

Bis 2020 sollen 5,5 Millionen Taxis in aller Welt unterwegs sein. Sobald autonome Fahrzeuge verfügbar sind, könnte sich die Zahl verdoppeln, schätzt die Unternehmensberatung Frost & Sullivan. Maximal zehn Minuten Wartezeit sollen genügen, bis ein autonomes Ruftaxi vor der Haustür oder am Straßenrand hält, hat die Stockholm-Studie des schwedischen Royal Institute of Technology für 2030 errechnet. Durch die Zwischenstopps und Umwege beim Ridesharing würde sich die Fahrtdauer im Durchschnitt zwar um 15 Prozent erhöhen. Der staufreie Verkehr würde diesen Nachteil aber mehr als ausgleichen. Nur zum Vergleich: In Deutschlands Top-Stau-Städten Stuttgart, Hamburg, Köln, München und Berlin verlängert sich die Pkw-Fahrtzeit von einer Stunde durch den dichten Verkehr derzeit um ein Drittel.

Nicht nur die Dauerstaus, sondern auch die traditionellen Geschäftsmodelle rund um die individuelle Mobilität könnten bis 2030 der Vergangenheit angehören: "Die Automobilbranche steht vor einer Zeitenwende: Werden heute noch mehr als 70 Prozent der weltweit gefahrenen Kilometer mit Privatfahrzeugen zurückgelegt, so werden in den kommenden zehn Jahren Carsharing- und Mitfahrmodelle einen immer größeren Anteil am gesamten Mobilitätsangebot haben", prognostiziert die Unternehmensberatung Roland Berger in einer aktuellen Studie: "Bis 2030 werden autonom fahrende Taxis, sogenannte Robocabs, voraussichtlich auf knapp 30 Prozent zunehmen. Bis dahin werden nur noch 45 Prozent der gefahrenen Kilometer im Privat-Pkw zurückgelegt werden."

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Weniger Autos bedeuten mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger. Auch kleinere Leichtfahrzeuge könnten von neuen Radschnellwegen profitieren. Der Zulieferer Schaeffler hat auf dem Kongress in Stuttgart ein Konzeptfahrzeug vorgestellt, das die Lücke zwischen dem Elektroauto und dem Fahrrad schließen soll. Das Pedelec auf vier Rädern kann eine Person wettergeschützt mit bis zu 25 km/h transportieren. Eine Anfahrhilfe bringt das 80 kg schwere Gefährt nach dem Ampelstopp wieder auf Tempo. Auch wenn das 85 Zentimeter breite Tretmobil auf deutsche Radwege passt: Richtig Spaß und Strecke macht diese Form der Fortbewegung erst auf eigenen Fahrradschnellspuren.

Teure Fahrrad-Zwitter konkurrieren mit Billigautos

Sind solche Mikromobile mit bis zu hundert Kilometer Reichweite die Antwort auf die zunehmende Platznot in den Ballungsräumen? Die Idee sei gut, doch die Umsetzung noch zu schwer, zu aufwendig und zu teuer, sagten Autoexperten am Rande des Kongresses in Stuttgart. Der Zwitter aus Fahrrad und Kleintransporter habe einen wesentlich größeren Bedarf an Verkehrs- und Parkfläche als Fahrräder. Auch Peter Gutzmer weiß, dass es bis zur Serienproduktion noch ein weiter Weg ist. "Vom angepeilten Preis zwischen 5000 und 7000 Euro sind wir noch weit entfernt", so der Schaeffler-Entwicklungschef.

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Der größte Feind solcher Hightech-Mikromobile ist der Kampfpreis der Billigautos. Schon für 7000 Euro bieten sie wesentlich mehr Komfort und Sicherheit. Das ist ein Grund, warum schlanke Urban Concept Cars seit Jahren immer wieder auf Messen zu sehen sind, aber nicht in die Großserie gehen. Audi, VW und Opel präsentierten 2011 City-Flitzer mit frei stehenden Rädern, Elektro-Antrieb und zwei hintereinander angeordneten Sitzen.

Jetzt hat Audi erneut ein smartes Zwergauto entwickelt, das eigentlich auf dem Pariser Autosalon im Herbst dieses Jahres gezeigt werden sollte. Doch die Premiere des autonomen Elektro-Kleinwagens fällt aus. Die Granden des Konzerns wollen die Kunden lieber auf den großen Elektro-SUV einstimmen, den Audi auf der IAA 2015 gezeigt hat und der 2018 in Serie kommen soll.

Auch in Zeiten des disruptiven Technologiewandels bleiben die Autobosse also ihren bewährten Karosseriekonzepten treu. Beste Beispiele sind die Mercedes-Studie F 015 vom vergangenen Jahr und die BMW Vision Next 100. Die beiden futuristischen Raumgleiter spielen in der Liga der Fünf-Meter-Limousinen - was angesichts des akuten Platzmangels in vielen Städten merkwürdig rückständig erscheint.

Als rollende Wellness-Oasen inmitten des City-Trubels könnten große Roboterautos trotzdem ein gutes Geschäft sein: Auch in Zukunft wollen viele Menschen möglichst direkt und angenehm von Tür zu Tür transportiert werden. Das ist nicht nur eine Frage der Fahrtdauer, sondern auch der Aufenthaltsqualität: "Im Durchschnitt verbringen wir 37 668 Stunden im Leben im Auto. Diese Zeit können wir den Menschen durch autonomes Fahren zurückschenken", so Johann Jungwirth.

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Was noch als Zukunftsmusik erscheint, könnte schneller Realität werden als gedacht: "Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde hat vor Kurzem den Computer als möglichen Fahrer zugelassen. Damit ist ein weiterer Meilenstein in Richtung selbstfahrender Autos genommen", erklärt Wolfgang Bernhart, Partner von Roland Berger. "Robocabs werden sich deshalb in den Großstädten sukzessiv als kostengünstige und bequeme Alternative zum eigenen Auto etablieren." Im 22-Stunden-Dauereinsatz pro Tag sinke die Lebenserwartung solcher Autos allerdings von 15 auf zwei Jahre, rechnet Johann Jungwirth vor: "Die Fahrzeuge müssen also rund sieben Mal früher ausgetauscht werden - unterm Strich werden tendenziell mindestens genau so viele Fahrzeuge gebaut wie heute."

Die Experten von Roland Berger erwarten, dass selbstfahrende Autos bis 2030 rund 40 Prozent des Gesamtgewinns der Automobilbranche ausmachen werden. Die Frage ist nur, welche Hersteller dann noch dazu gehören: Neue Mobilitätsanbieter werden sich zwischen die traditionellen Blechbieger und die Endkunden schieben. Die neue BMW-Strategie soll den Angreifern aus dem Silicon Valley Paroli bieten. VW will seinerseits die tiefe Identitätskrise in Folge des Abgasskandals für einen Kurswandel nutzten: "Das Herz des Autos wird das selbstfahrende System sein. Ich weiß, wie weit die Silicon-Valley-Player bei dem Thema sind. Deshalb bin ich überrascht, wie zurückhaltend einige Firmen in Deutschland agieren", staunt der Auto-Visionär Jungwirth: "Wer diese Kernkompetenz nicht beherrscht, wird nicht als Gewinner aus diesem Rennen hervorgehen."

© SZ vom 09.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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