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Autonomes Fahren:Wer hat Angst vorm Geister-Truck?

Lesezeit: 5 min

Zukunftsängste und Fahrermangel prägen die IAA Nutzfahrzeuge in Hannover. Mit dem Future Truck gewährt Mercedes einen Ausblick auf autonome Lastzüge. Nur: die Konzeptstudie gibt Antworten auf Fragen, die noch keiner gestellt hat.

Von Joachim Becker

Was ist bloß mit den Helden der Landstraße los? Statt auf überfüllten Rastplätzen verbrannte Bratkartoffeln vom Gaskocher zu futtern, sitzen sie am Feierabend lieber im heimischen Wohnzimmer. Die Flucht der stolzen Fernfahrer in den regionalen Verteilerverkehr gilt als Krisensymptom. Auch der Nachwuchs hält es eher mit einer ausgewogenen Work­Life­Balance als mit den Pin-ups aus dem Pirelli-Kalender: 70 Prozent bevorzugen den Nahverkehr als zukünftigen Einsatzbereich, hat die neue ZF-Zukunftsstudie Fernfahrer 2.0 ermittelt.

Schon länger geistert das Phantom des Fahrermangels durch die Branche, obwohl Spediteure und Billigkräfte aus Osteuropa nach Deutschland drängen. "Ein Drittel der 430 000 Lkw-Fahrer in Deutschland ist älter als 53 Jahre, in den nächsten zehn Jahren gehen jährlich rund 25 000 Lkw-Fahrer in Rente", warnt Andreas Schmid, "selbst mit rund 11 500 Quereinsteigern pro Jahr ergibt sich eine erhebliche Deckungslücke, weil die Ausbildung von jungen Fahrern jahrelang vernachlässigt wurde", so der Leiter Mercedes-Benz Vertrieb Lkw Deutschland.

Einer der härtesten Jobs an der Mindestlohngrenze

Der anhaltende Boom im Straßengüterverkehr bläht das Problem noch weiter auf. Aufgrund der EU-Osterweiterung ist die Lkw-Karawane zwischen 1990 und 2010 bereits um mehr als 80 Prozent gewachsen. Bis 2030 soll die Zahl der Tonnenkilometer auf deutschen Straßen laut Bundesverkehrsministerium um weitere 39 Prozent zulegen. Für die EU ist sogar ein Anstieg um bis zu 44 Prozent in einzelnen Gebieten möglich. Gerade auf Langstrecken fehlen daher qualifizierte Trucker.

Daimler hat sich entschlossen, die Seele des allein reisenden Mannes mit besonderen Kontaktanzeigen zu streicheln: "Büroarbeiter fahren morgens in die Tiefgarage. Trucker in den Sonnenaufgang", ist eine zartrosa Bergidylle unterschrieben. Die Morgenröte soll Aufbruchstimmung in einer Branche signalisieren, die einen der härtesten Jobs an der Mindestlohngrenze bietet.

Bewegungsmangel und Stress im Stau

Trucker müssen sich zwar nicht mehr an riesigen Lenkrädern ohne Hydraulik-Unterstützung abmühen oder mehr als ein Dutzend Gänge ohne Automatik sortieren. Dafür leiden viele von ihnen an Bewegungsmangel und den überfüllten Fernstraßen, die jeden Terminplan zu Makulatur machen. Allein in Deutschland summierten sich die Staus auf Autobahnen und Fernstraßen im Jahr 2012 auf knapp 600 000 km Länge. Besonders viel befahrene Abschnitte müssen werktäglich zwischen 150 000 und 200 000 Fahrzeuge verkraften, darunter mehr als 20 000 Lkw.

Angesichts der realen Blechflut wirkt Daimlers Appell an den Fernfahrernachwuchs so kitschig wie das gezeigte Alpenglühen: "Truckern liegt die Welt zu Füßen. Jetzt den Lkw-Führerschein machen", wirbt der weltgrößte Nutzfahrzeughersteller im Breitwandformat.

Das plakatierte Klischee vom freien und selbstbestimmten Trucker kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich der Berufsstand genau wie die Logistikbranche im radikalen Wandel befinden. Zwar geben immer noch 67 Prozent der befragten Fernfahrer den "Spaß am Fahren" als Grund für ihre Berufswahl an. Das Kennenlernen von fremden Städten und Ländern motiviert ein Drittel der harten Kerle ebenso, sich auf den Bock zu setzen wie die Vorstellung "Ich bin mein eigener Chef" .

Statt ihrem Fernweh zu folgen, verstricken sich aber auch selbständige Fahrer in immer ausgeklügelteren Logistikketten, die jede Bewegung per Telematik, Mobilfunk und Fahrtenschreiber kontrollieren. Im Wettbewerb mit osteuropäischen Billiganbietern bleibt die große Freiheit für die rund 50 000 meist sehr kleinen deutschen Lkw-Transportunternehmen in der Regel nur ein Traum. Längst erfüllen auch "Asphalt-Cowboys" jene industrialisierte, unpersönliche und streng durchgetaktete Arbeit, der sie entfliehen wollten.

Ganz abgesehen davon, dass nur ein knappes Drittel der Trucker als absolute Überzeugungstäter bereit sind, inklusive Ladezeiten mehr als 70 Stunden in der Woche zu arbeiten und die Wochen(enden) "on the Road" zu verbringen. "Berufskraftfahrer - vor allem im internationalen Fernverkehr - können derzeit nicht davon ausgehen, ihrem Freizeitleben eine regelmäßige, planbare und sozial ausgewogene Struktur geben zu können", heißt es dazu trocken in der neuen ZF-Studie.

Allzweckwerkzeug Future Truck

Daimler will die sozialen und wirtschaftlichen Probleme mit visionärer Technik lösen helfen. Mit Kollege Computer am Lenkrad könnten Brummifahrer ab 2025 zum entspannten Transportmanager in einem rollenden Hightech-Büro aufsteigen, so die Utopie. Auf wundersame Weise soll dabei auch die Transporteffizienz gesteigert und der Straßenverkehr für alle Teilnehmer sicherer werden. Und ganz klar: Der CO₂-Ausstoß geht auch noch zurück.

Daimlers Allzweckwerkzeug für eine schöne neue Logistikwelt heißt Future Truck. Die besonders aerodynamische Sattelzugmaschine im grimmigen Darth-Vader-Look kann dank der hochgenauen digitalen Karten und modernsten Systemen zur Umfelderkennung zumindest auf der rechten Autobahnspur autonom fahren. Während der Trucker seinen Sitz um 45 Grad nach rechts ins Fahrerhaus dreht, gemütlich die Beine ausstreckt und per Tablet-PC seine Mittagspause sowie die nächsten Transportaufträge organisiert, steuert ihn der "Highway Pilot" ans Ziel. Nur zum Überholen und beim Verlassen der Schnellstraße muss der Fahrer das Lenkrad noch selbst übernehmen.

Keine Frage: Die gedrehte Fernsehsessel-Sitzposition ist aufgrund der Schleuderkräfte im Crash-Fall ebenso wenig zulassungsfähig wie das maschinelle Gefahrenwerden. Auch die Vehicle-to-Vehicle-Kommunikation per Wlan ist noch immer Zukunftsmusik. Technisch machbar sind all diese Systeme allerdings schon heute. "Ich glaube, dass wir mit der Technik schneller sein werden als die Politik mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen", sagt Wolfgang Bernhard: "Die Systeme sind schon relativ seriennah, weil wir sowohl die Stereokamera als auch die Radarsensoren und die gesamten Computermodelle zur Erfassung anderer Verkehrsteilnehmer aus unserem Pkw-Bereich übernommen haben." Daimlers Nutzfahrzeugchef war nach seinen Worten auch im Pkw-Vorstand stets ein Vorkämpfer des autonomen Fahrens: "Wir können nicht warten, bis andere Unternehmen, die nicht aus der Automobilindustrie kommen, das ganze Thema besetzen."

Anders als Google will Daimler nicht die ganze Welt digitalisieren, um für das autonome Fahren ein Abbild des Verkehrsgeschehens in der Cloud zu erzeugen. "Wir wollen nicht aus einem digitalen Gesamtmodell die spezifische Situation für jedes Fahrzeug ableiten und diesem dann sagen, was es zu tun hat", betont Bernhard, "wir brauchen das alles nicht, unser System ist viel simpler und sehr viel kostengünstiger. Außerdem können wir uns aus Sicherheitsgründen nicht erlauben, dass so ein Online-System abstürzt." Am Vorabend der IAA Nutzfahrzeuge war Bernhard mit dem Future Truck unter Applaus in die Eventhalle am Flughafen Hannover gefahren. Auf der Messe selbst wirkt der Geister-Truck allerdings wie die Antwort auf eine Frage, die noch gar kein Spediteur gestellt hat.

Erst das Angebot, dann die Nachfrage

"Es ist so wie bei den ersten Sicherheitssystemen für den Lkw: Eine Nachfrage für solche Systeme entsteht erst durch das konkrete Angebot. So ähnlich könnte das auch bei den autonomen Trucks sein", ist sich Wolfgang Bernhard sicher. Tatsächlich war Daimler ein Vorreiter bei Lkw-Assistenzsystemen, lange bevor sie gesetzlich vorgeschrieben wurde. Ab 2015 muss jeder neue Brummi beispielsweise mit einem Spurhalteassistent und einem einfachen Notbremssystem ausgestattet werden. Daimler hat diese elektronischen Helferlein bereits vor 15 Jahren erstmals eingeführt. Lohn der digitalen Aufrüstung: Trotz des vermehrten Verkehrsaufkommens und trotz der rasanten Steigerung der Transportleistung ist die Zahl der bei Lkw-Unfällen getöteten und schwerverletzten Verkehrsteilnehmer seit dem Jahr 2000 um die Hälfte zurückgegangen.

Autonomes Fahren könnte diese Erfolgsbilanz fortsetzen: Der neue Blind Spot Assist vor den Hinterrädern der Zugmaschine erkennt andere Verkehrsteilnehmer beim Abbiegen - er wird wohl schon nächstes Jahr in Serie gehen. Ab 2018 sind in Europa auch Notbremsassistenten vorgeschrieben, die voll in die Eisen steigen, wenn ihnen bewegte oder unbewegte Objekte in die Quere kommen. Bilder von 40-Tonnern, die ungebremst in ein Stauende rasen, werden künftig also der Vergangenheit angehören. Das funktioniert beim Future Truck nicht anders: Wenn der Fahrer bei Problemen nicht reagiert, löst der Roboter eine Notbremsung aus. Denn eines ist klar: Auch 2025 wird die Kutsche noch nicht ohne Kutscher auskommen.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2014
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