"Wolfsburg? Kenne ich nicht." Der Mann am Straßenrand schüttelt den Kopf. Von der Ortschaft, nach der sich der britische Offizier erkundigt, hat er noch nie gehört.
Es ist Anfang August 1945, wenige Monate nach Kriegsende. Deutschland liegt in Trümmern, wird von den Siegermächten regiert. Im Norden haben die Briten das Sagen und bestimmen somit auch über das Schicksal der großen Industriebetriebe.
Der Offizier, der sich auf den Weg ins unbekannte Wolfsburg macht, heißt Ivan Hirst. Er ist erst 29 Jahre alt, hat aber eine gewaltige Aufgabe vor sich. Hirst soll die Autofabrik übernehmen, die einst von den Nazis aus dem Boden gestampft worden war und in der man den "Kraft-durch-Freude-Wagen" bauen wollte. Doch der Traum ist geplatzt. Und weil niemand mehr an die braune Vergangenheit erinnert werden will, nennt sich die frühere "Stadt des KdF-Wagens" seit Ende Mai 1945 Wolfsburg. In der Bevölkerung spricht sich das aber erst langsam herum.

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Wolfsburg hat den Krieg gut überstanden
Als Hirst dort ankommt, staunt er nicht schlecht. Von Hitlers Vorzeigestadt existieren nur breite Straßen, an denen vereinzelt ein paar Häuser stehen. Der Rest sind riesige Barackensiedlungen. Hier leben ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, aber auch Flüchtlinge und andere heimatlose "Displaced Persons", die man dort einquartiert hatte. Insgesamt mehr als 20 000 Menschen.
Der gigantische Werkskomplex hat den Krieg gut überstanden. Nur rund ein Fünftel der Hallen sind beschädigt und für die Produktion unbrauchbar. Fast 90 Prozent der Maschinen funktionieren noch oder können repariert werden. "Abwicklung" lautet Hirsts Befehl. In den kommenden Monaten soll er alles so vorbereiten, dass die Maschinen demontiert und in die Heimat der Siegermächte transportiert werden können.
In Deutschland, so hatten es die Alliierten geplant, darf es künftig keine nennenswerte Industrieproduktion mehr geben. "Da die Briten das Kölner Ford-Werk als ausreichend für die zivile Automobilfertigung bestimmt hatten, kam das Volkswagenwerk auf die Demontageliste", erläutert der Dortmunder Historiker und VW-Chronist Markus Lupa die Absichten der Besatzungsmächte.

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Erst die Schonfrist, dann die Rettung für den Volkswagen
Doch Ivan Hirst, der jetzt den Titel "Resident Officer at Works" trägt, hält nichts von diesen Plänen. Er will nicht als Totengräber fungieren. Hirst weiß, wie groß der Transportbedarf der Alliierten ist und wie dringend man die im Krieg beschädigten Fahrzeuge ersetzen muss. Warum nicht durch ein Auto wie den Volkswagen?
Auf dem Werksgelände sucht er nach einem gut erhaltenen Exemplar des einstigen KdF-Wagens und lässt es wie ein Militärfahrzeug lackieren - in Khaki. Damit will er seine Vorgesetzten beeindrucken und ihnen das Auto als Dienstwagen empfehlen. Der Coup klappt: Nachdem die Kommandeure den Wagen eingehend unter die Lupe genommen haben, setzen sie den Volkswagen am 10. August 1945 auf die Liste der laufenden Projekte des Wolfsburger Werks und gewähren ihm damit eine Schonfrist. Chronist Lupa: "Die Offiziere erkannten, dass sie mit der Fabrik nicht nur Autos, sondern auch Demokratie bauen konnten."
Der offizielle Auftrag trifft am 22. August 1945 in Wolfsburg ein: Ivan Hirst und sein Autowerk sollen 20 000 Volkswagen, 500 Sonderfahrzeuge mit 500 Anhängern für die Post sowie 200 Anhänger für die Militärs liefern. "Das war die Rettung des Volkswagens", erinnert sich Hirst Jahrzehnte später in einem Interview an jenen Großauftrag, mit dem vor 70 Jahren die Nachkriegsgeschichte des heute größten Autoherstellers Europas beginnt.
Für den Offizier, der damit vom "Abwickler" zum Automanager wird, gibt es viel zu tun. Er kümmert sich um fast alles, organisiert, improvisiert und arbeitet oft zehn bis zwölf Stunden am Tag. Seine größten Probleme heißen Personalmangel und Hunger. Zwar stehen im August 1945 rund 3000 Namen auf der Belegschaftsliste, doch darunter sind nur wenige qualifizierte Fabrikarbeiter. Viele von ihnen sitzen noch immer als Kriegsgefangene in Lagern. Hirst schafft es, dass die westlichen Alliierten rund 1000 dieser Männer freilassen und nach Wolfsburg schicken.

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Nur: Was erwartet sie dort? Es gibt keine Wohnungen, nur Baracken. Bis zu 14 Mann hausen in einem Raum. Man schläft auf Strohsäcken, oft gibt es noch nicht einmal Wolldecken. Kein Wunder also, dass viele Arbeiter nach kurzer Zeit Wolfsburg den Rücken kehren. Und überall herrscht Hunger. Zwar betreibt das Werk eine eigene Landwirtschaft, aber die Ernten reichen bei Weitem nicht aus, um alle Mitarbeiter zu versorgen. So dauert es nicht lange, bis sich die schlimmen Folgen der Mangelernährung bemerkbar machen: Viele Menschen brechen am Arbeitsplatz vor Erschöpfung zusammen, leiden an Vitaminmangel und Zahnausfall. Wegen Hunger und Krankheit fehlt regelmäßig gut ein Viertel der Belegschaft, an manchen Tagen erscheint sogar nur jeder zweite an seinem Arbeitsplatz.
55 Volkswagen bis Silvester 1945
Trotzdem gelingt es Ivan Hirst immer wieder, seine Leute zu motivieren. Mal besorgt er eine Ladung Fisch von der Nordsee, mal nutzt er seine Beziehungen zu anderen Militärdienststellen, um etwas Essbares für die Belegschaft zu organisieren. Im Spätherbst 1945 nennt man sich bereits "Volkswagenwerk GmbH". Mit nur zweimonatiger Verspätung fällt schließlich am 27. Dezember 1945 der Startschuss für die Serienproduktion des Volkswagens und bis Silvester werden die ersten 55 Autos auf die Räder gestellt. Weil sie vorerst nur als Dienstwagen für die Control Commission for Germany bestimmt sind, spricht man intern von den "CCG-Wagen". Sie basieren noch auf dem Chassis des im Krieg hergestellten "Kommandeurwagens" und haben deshalb eine größere Bodenfreiheit als die späteren Normalversionen, die man schlicht "Typ 1" nennt.

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Allen Schwierigkeiten zum Trotz, stellt das Werk von Tag zu Tag mehr Autos her und schafft es im März 1946, den 1000. Volkswagen auszuliefern. Es ist ein Grund zum Feiern - mit knurrendem Magen. Ende 1946 haben über 10 000 Volkswagen die Fabrik verlassen und der Umsatz steigt auf knapp 55 Millionen Mark. Zwar gibt es immer wieder Rückschläge, doch Hirst und seine Mannschaft überwinden auch schlimmste Krisen wie den "Hungerwinter" 1946/1947 und präsentieren ihr Auto im darauffolgenden Sommer erstmals auf der Hannover Messe. Dort werden Auslandskontakte geknüpft und tatsächlich gelingt es, dass ab August 1947 die ersten Volkswagen exportiert werden. Das bringt die begehrten Devisen ein.
Hirst ist der wahre Sanierer, nicht Nordhoff
Ivan Hirst bleibt noch bis April 1949 in Wolfsburg. Er wäre gerne länger geblieben, aber mit dem neuen Generaldirektor Heinrich Nordhoff, den die Briten Anfang 1948 eingesetzt hatten, kann er sich nicht anfreunden. Nordhoff verabschiedet ihn kühl mit "allerbesten Wünschen" und lehnt es in den folgenden Jahren mehrfach ab, den Briten einzustellen. So avanciert Nordhoff zum "Mister Volkswagen" und lässt sich als Sanierer und Neubegründer des Werks feiern, während Hirst in Vergessenheit gerät.
Mehr als zwei Jahrzehnte vergehen, bis sich VW wieder an den britischen Offizier erinnert. Er wird eingeladen, gibt Interviews und schildert Historikern die wahren Ereignisse nach Kriegsende. So beginnt man, die Werksgeschichte neu zu schreiben. "Das Volkswagenwerk verdankt sein Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg und damit seine heutige Gestalt einem Briten: Ivan Hirst", lautet seitdem der erste Satz in einer Firmenchronik, die sich der Zeit ab 1945 widmet.
Der Mann, der das Volkswagenwerk rettete, stirbt kurz nach seinem 84. Geburtstag am 9. März 2000. "Sein" Werk produziert heute mehr als 830 000 Autos pro Jahr und beschäftigt etwa 57 000 Menschen.