Automobilgeschichte:Als Daimler Audi Starthilfe gab

DKW F102

DKW F102, mit dem "größten aller DKW-Dreizylinder, die es je gab".

(Foto: Audi AG)

Mercedes und Audi sind heute große Konkurrenten. Dazu wäre es wohl nie gekommen, wenn Daimler nicht entscheidend an der Entwicklung des ersten Nachkriegs-Audis beteiligt gewesen wäre.

Von Christof Vieweg

Flick, Friedrich Flick: Das ist der Mann, der vor rund 60 Jahren in der deutschen Wirtschaft die Fäden zieht. Auch in der Autobranche. Als größter Aktionär von Daimler-Benz bereitet der 74-Jährige 1957 das seit Langem größte Geschäft des schwäbischen Autoherstellers vor: den Kauf der traditionsreichen Auto-Union GmbH, die mit ihren Marken DKW und NSU Motorräder, Transporter und Personenwagen herstellt. Der Deal soll beide Unternehmen stärken und sie im neuen europäischen Wirtschaftsraum wettbewerbsfähiger machen.

Das klingt plausibel, doch Flicks Idee einer großen deutschen Auto-Familie funktioniert nur auf dem Papier.

Im richtigen Leben gibt es Krach. Zwar bestimmen die Daimler-Leute den Kurs, aber niemand in der Auto-Union will davon etwas wissen. Beharrlich ignoriert man die Vorgaben aus Stuttgart und hält stattdessen unverdrossen an eigenen Prinzipien fest. Dazu gehört vor allem der Zweitaktmotor, seit jeher das Markenzeichen der DKW-Modelle. Die antiquierten Aggregate, die vor allem durch aufdringliches Knattern und blaue Abgaswolken auf sich aufmerksam machen, sind den anspruchsvollen Daimler-Ingenieuren ein Dorn im Auge. Sie wollen die DKW-Konstruktionen baldmöglichst aufs Altenteil schicken. Doch sie laufen ins Leere. Auto-Union-Chef Werner Henze und sein oberster Techniker William Werner glauben fest an den Zweitakter und sind überzeugt, damit weiter gute Geschäfte machen zu können.

Für Käufer, denen ein Mercedes zu groß ist

Als man 1960 in Ingolstadt endlich auf die Forderung eingeht, den stilistisch und technisch veralteten Typ Auto-Union 1000 durch ein modernes Modell zu ersetzen, will sich Daimler-Technikvorstand Friedrich Nallinger nicht allein auf die Ingolstädter verlassen. Er ruft einen seiner besten Ingenieure in die Chefetage und beauftragt ihn, den neuen Wagen samt Motor zu entwickeln. Dieser Mann heißt Ludwig Kraus, er ist Leiter der Daimler-Vorentwicklung. Das Auto, das Kraus auf die Räder stellen soll, nennt Nallinger "Auffangtyp": Er soll jene Autokäufer "auffangen", denen ein Mercedes zu groß und zu teuer ist und die deshalb bisher bei Borgward oder Opel kaufen. Deshalb soll der "Auffangtyp schleunigst konstruiert und versuchsmäßig in Angriff genommen werden", verlangt der Daimler-Vorstand.

Das Projekt W118 beginnt und schon sechs Wochen später steht das erste Designmodell auf den Rädern. Dann folgt ein Prototyp, den die Stuttgarter Ingenieure auf Testfahrt schicken.

Daimler hatte offenbar das Sagen

Das Mercedes-Projekt W118

Mercedes Projekt W118: Der Prototyp wurde später zum DKW F102 beziehungsweise zum ersten Nachkriegs-Audi.

(Foto: Daimler)

Nicht ganz so reibungslos klappt die Entwicklung des neuen Motors, der die DKW-Zweitakter ablösen soll. Anfangs arbeitet man in Stuttgart an einem ventilgesteuerten Boxermotor mit 1,5 Liter Hubraum. Laufruhe und Spritverbrauch entsprechen aber nicht Nallingers Vorstellungen. So entsteht ein neuer Reihen-Vierzylinder mit 1,7 Liter Hubraum, der sogenannte H-Motor. Es ist ein Experiment, bei dem es vor allem um bestmöglichen Wirkungsgrad und hohe Wirtschaftlichkeit geht. Beides erreichen die Daimler-Leute vor allem durch die hohe Verdichtung von 1:11,2 und realisieren damit ein Motorkonzept, dem in Ingolstadt noch eine große Zukunft bevorstehen wird. Mit diesem H-Motor wird der Prototyp W118 in W119 umbenannt. Ludwig Kraus: "Wir haben den Motor nur für die Auto-Union entwickelt."

Was in den folgenden Monaten zwischen der Konzernmutter in Stuttgart und der Tochtergesellschaft in Ingolstadt geschieht, ist in keiner Firmenchronik verzeichnet. Offiziell heißt es, man habe an beiden Orten die Entwicklung des neuen Mittelklassemodells der Auto-Union vorangetrieben. Doch Fotos aus dem Daimler-Archiv lassen erkennen, wer dabei offenbar das Sagen hatte. Die Bilder zeigen den von Ludwig Kraus und seinem Team entwickelten Mercedes-Prototypen W119: Eine Limousine mit Frontantrieb, tiefer Gürtellinie, filigranen Dachsäulen, breitem Chromkühler und einer Heckpartie, die sich durch schmale, horizontal gestreckte Rücklichter unterscheidet. Kein Zweifel: Dieses Auto entspricht weder der Philosophie noch der Formensprache von Mercedes-Benz; es ist speziell für die Auto-Union vorgesehen und steht dort offenbar in den folgenden Jahren auch bei der Serienentwicklung Pate.

Tatsächlich präsentiert die Daimler-Tochter im September 1963 mit dem neuen DKW F102 ein Auto, das dem Mercedes-Prototypen W119 innen wie außen zum Verwechseln ähnlich sieht. Unter der Motorhaube des F102 knattert allerdings noch ein Zweitakter. "Es ist der größte aller DKW-Dreizylinder, die es je gab", tönt die Werbeabteilung der Auto-Union und versucht mit dem Slogan "Formel des Fortschritts", verlorenes Terrain zurückzuerobern. Vergebens: Nach dem strengen Winter 1962/1963, als Rhein und Bodensee zufrieren, gehen auch Tausende DKW-Kurbelwellen vor Kälte zu Bruch. Damit ist das Image der Zweitakter vollends ruiniert. Der Absatz bricht zusammen. Von einst über 40 000 Mittelklasselimousinen pro Jahr verkauft die Auto-Union 1963 nur noch rund 15 000. Überall im Land stehen DKW-Modelle auf Halde.

"Die Mannschaft war ja so verschlagen"

Im Herbst 1963 ist es mit der Geduld des Daimler-Vorstands endgültig vorbei. Vorentwickler Ludwig Kraus und eine Handvoll erfahrener Techniker werden nach Ingolstadt geschickt, um dort endlich die richtigen Weichen zu stellen. Obwohl Kraus im Rang eines stellvertretenden Geschäftsführers steht, erlebt er schwere Zeiten. "Wenn ich gewusst hätte, was da an Aufregung und Schwierigkeiten auf mich zukommen würde, dann hätte ich es mir vielleicht doch noch anders überlegt", berichtet er Jahre später über seine ersten Wochen bei der Auto-Union. "Die Mannschaft war ja so verschlagen. Als man merkte, dass ich konsequent auf den Viertakter zusteuerte, hat man mich bekämpft."

Als die Auto-Union immer mehr in finanzielle Schieflage gerät, kann Ludwig Kraus endlich durchstarten: Unter dem Codenamen Mexiko wird Daimlers H-Motor zur Serienreife gebracht und der F102 zum F103 weiterentwickelt. Es ist der erste Viertakt-DKW: 72 PS stark und 138 km/h schnell. Die neue Limousine ist zehn Zentimeter länger, hat einen größeren Radstand und bekommt moderne Rechteck-Scheinwerfer, doch ansonsten entsprechen Design und Technik weitgehend dem F102 - und damit auch dem Mercedes-Prototypen W119.

Der VW-Chef regiert mit eiserner Hand

Audi 72 bei der Donau Classic 2009

Aus dem DKW F102 wird 1965 nach leichten Änderungen der erste Nachkries-Audi, der später als Audi 72 verkauft wird.

(Foto: Audi AG)

Im Spätsommer 1964 ist die Auto-Union endlich auf dem richtigen Weg in die Zukunft, um Geld in die Kassen der Stuttgarter Konzernmutter spülen zu können. Doch es kommt anders: Großaktionär Flick will Daimler-Benz von der erfolglosen Tochtergesellschaft befreien und denkt sich eine neue Strategie aus: Das Volkswagenwerk soll die Auto-Union kaufen. Zum Jahresbeginn 1965 ist der Deal perfekt: Volkswagen übernimmt 75 Prozent der Auto-Union-Anteile und führt damit ab sofort Regie in Ingolstadt.

Anders als die Schwaben regiert VW-Chef Heinrich Nordhoff von Anfang an mit eiserner Hand. Das ist auch bitter nötig, denn für das Jahr 1965 rechnet man mit einem Verlust von 116 Millionen D-Mark und Schulden in Höhe von rund 234 Millionen D-Mark. Damit wäre der Autohersteller praktisch pleite. Um die Fabrik vor dem Ruin zu retten, soll Ingolstadt in den VW-Verbund integriert werden und ab Mai 1965 täglich bis zu 500 VW Käfer produzieren.

Aus DKW wird Audi

Und DKW? Auto-Union-Chef Henze und viele seiner Zweitakt-Freunde werden in Pension geschickt. Nur Ludwig Kraus darf bleiben und bekommt einen neuen Vertrag als technischer Geschäftsführer. Er bringt den F103 auf Touren und kann bereits im Frühjahr 15 Prototypen in die Erprobung schicken. "Hinsichtlich des Motors wird die Entwicklung von Daimler-Benz weiterbetrieben, wobei ein enger Kontakt zwischen Daimler-Benz und Auto-Union besteht", berichtet Kraus später über die Entwicklung des F103. Mit anderen Worten: Die Stuttgarter geben auch weiterhin technische Starthilfe, um den neuen Viertakter serienreif zu machen.

Was noch fehlt, ist ein neuer Name. DKW oder Auto-Union kommen für Nordhoff nicht infrage. Aus DKW wird schließlich Audi. Damit übernimmt man einen Markennamen, der in den Vorkriegsjahren schon einmal zur Auto-Union gehört hatte.

Am 13. August 1965 fährt der F103 als "erster neuer Audi" von der Montagelinie. Es ist ein Freitag - und ein Schicksalstag für die Daimler-Benz AG, die mit dem Prototypen W119 und dem H-Motor einem neuen Konkurrenten zum Start verholfen hatten. Der Audi F103 wird von 1965 bis 1972 produziert und findet mehr als 416 000 Käufer.

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