Automobile Legenden: Fiat 124/125:Das heimliche Weltauto

Die Fiat-Modelle 124 und 125 sind bis heute die meistgefahrenen Personenwagen auf dem Globus. Nicht zuletzt dank der sozialistischen Bruderliebe.

Thomas Urban

Preisfrage: Welches Automodell ist heute das am meisten gefahrene? Der VW Käfer? In Europa, wo er Massenfahrzeug war, und in den USA, wo er Kultauto war, ist er schon lange eine Rarität. Spitzenreiter sind vielmehr zwei alles andere als exotische, geradezu unauffällige Brüder, nicht nur äußerlich, sondern auch vom Namen her von allergrößter Ähnlichkeit: der Fiat 124 und der Fiat 125.

Beide haben dieselbe Linienführung, wenn auch der größere 18 Zentimeter länger ist. Sie waren zu ihrer Zeit Vorreiter der Rationalität im Auto-Design, die sich dann in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre durchsetzte: klare Kastenformen, keine Bögen und Buckel, Schwünge und Schnörkel. Manche Kritiker spotteten damals, von der Seite betrachtet wüsste man bei diesem neuen Fiat nicht, wo vorn und wo hinten sei, jedenfalls kein Hauch von Bellezza. Doch die Käufer störte dies nicht.

Nicht einfach nur exportiert

Er führte Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Verkaufslisten an. Und er wurde - vor allem - zum Exportschlager. Dabei wurde er nicht einfach als Modell exportiert, sondern in mehreren Ländern wurden Fabriken gebaut, die nur ihn produzierten - und es teilweise bis heute tun.

Da waren zuerst die Spanier. Schon seit den fünfziger Jahren bauten sie Fiat-Modelle nach, populärstes Modell war der kleine runde 600er. Der Seat 124 wurde in der Agonie der Franco-Zeit das Familienauto der etwas wohlhabenderen Spanier. Auch auf der anderen Seite des Mittelmeeres wurde er Symbol für Aufstieg und Moderne: in der Türkei. Hier wurde er als Tofa unters Volk gebracht - und er rollt und rollt bis heute in der Provinz, je weiter man nach Anatolien kommt, desto häufiger trifft man ihn an.

Hässlicher Ansehensverlust

Noch größer und überwältigender war der Erfolg des Piemontesen auf dem indischen Subkontinent. Dort wird er bis heute gebaut, als Premier 118. Und sein Name steht seit fast 40 Jahren für Zuverlässigkeit und Qualität.

Doch auf der anderen Seite der Alpen, im Land der "deutschen Wertarbeit" taten sich die Turiner schwer. Nicht nur das: Der kurze internationale Ruhm des 124 wurde bald überschattet von schlechten Nachrichten. Dieser hässliche Ansehensverlust trug einen schön klingenden Namen: Lada, sein russischer Nachbau.

Für ein paar Zehntausende westdeutsche Käufer wurde dieser Lada zum Albtraum, denn die gesamte Verarbeitung war miserabel. Vor allem rostete er in Rekordzeit. Jenseits des eisernen Vorhangs aber bedeutete er die Erfüllung eines Traumes für Millionen glücklicher Werktätiger.

Das heimliche Weltauto

Irgendwie hatte die Kreml-Führung Mitte der sechziger Jahre begriffen, dass die vaterländische Automobilproduktion nicht in der Lage sein würde, die Bedürfnisse der Sowjetmassen nach individueller Fortbewegung zu erfüllen. Man wollte die besten Ingenieure lieber Panzer, Raketen und U-Boote entwickeln lassen als Personenkraftwagen. Und die roten Zaren wussten auch , wer ihr Problem lösen sollte: der rote Milliardär, Fiat-Chef Giovanni Agnelli, der sich selbst als bekennender Kommunist bezeichnete.

Die Russen bauten an der Wolga gleich eine ganze Stadt für die Fließbandarbeiter, benannt wurde sie nach dem italienischen Stalinisten Togliatti. "Der Vertrag des Jahrhunderts", wie die Sowjetpresse das Abkommen nannte, sah ein großes Tauschgeschäft vor: Die Italiener bauten eine Fabrik mit einer Jahreskapazität von 700.000 Wagen, dafür bekamen sie Millionen Tonnen Stahl geliefert.

Der Käferkiller

Das ganze endete für den Turiner Konzern tragisch: Der Stahl, der vor allem für die Karosserien des "Käferkillers" Alfasud verwendet wurde, war von miserabler Qualität und ruinierte den Ruf der Firma auf viele Jahre hinaus. Die Sowjetbürger aber mussten sich mangels Alternativen mit den Wagen aus Togliatti arrangieren, die in der UdSSR unter dem Namen Shiguli (mit weichem Zischlaut am Anfang) firmierten. Sie versuchten, ihn an die raue russische Wirklichkeit anzupassen, an die schlechten Straßen sowie an das harte Klima mit heißen Sommern und beißendem Frost im Winter.

Als erstes beschloss die Werksleitung von Togliatti, dem Shiguli ein robusteres Fahrwerk zu geben und die Achsen zu verstärken. Außerdem wurden die Scheibenbremsen, die nur richtig funktionieren, wenn sie vollkommen sauber sind, durch herkömmliche Trommelbremsen ersetzt. Denen machen der Schlamm im Frühling und Herbst, der Staub im Sommer sowie Schnee und Eis im Winter weniger aus.

Diese Änderungen wiederum hatten zur Folge, dass der vom Kreml vorgegebene Termin für die erste Produktionsserie nicht eingehalten werden konnte: Der erste Shiguli sollte am 22. April 1970 vom Band laufen, dem 100. Geburtstag des gottgleich verehrten Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin. Es wurde dann Oktober.

Wegen der aufwendigeren Konstruktion konnte auch die von der staatlichen Planbehörde zunächst vorgesehene Stückzahl vom 660.000 pro Jahr nie erreicht werden. Obendrein reichten die Änderungen am Modell nicht. So entstanden Zehntausende inoffizielle Hinterhofwerkstätten - private durfte es ja nicht geben. Sie machten den Wagen wirklich fit: Sie schweißten, lackierten, bauten selbst fehlende Ersatzteile nach. Und sie nannten ihn zärtlich "Kopejka" - Kopeke. Warum, weiß eigentlich keiner so genau.

Das heimliche Weltauto

Der Shiguli schaffte ein typisches sozialistisches Wirtschaftswunder, wie auch der Wolga oder in der DDR der Wartburg und der Trabant, in der Tschechoslowakei der Škoda oder in Polen der Fiat-Polski: Der Gebrauchtwagen war teurer als der Neuwagen. Denn es gab ihn sofort, während der sozialistische Bürger ohne Beziehungen auf den fabrikneuen viele Jahre warten musste. So entstand auch in der Sowjetunion ein neuer Beruf: der des Gebrauchtwagenspekulanten und Neuwagenverschiebers.

Nicht anders war es in Polen, nur dass dort nicht der 124er, sondern der 125er nachgebaut wurde. Erst war man in Moskau dagegen. Der Kreml wollte, dass Togliatti auch die widerborstigen Nachbarn beliefert. Aber die Führung in Warschau konnte den Moskauern klarmachen, dass sie ihre Arbeiterklasse, die allzeit bereit war zum Streik oder gar zum Aufstand, durch Konsum ruhigstellen müsste. Also erlaubte der Kreml den Polen, direkt mit Fiat zu verhandeln.

Parteichef Edward Gierek schloss Verträge über den Nachbau gleich zweier Turiner Modelle: den 126er, der dann in Polen "kleiner Fiat", zärtlich auch "Maluch" (Winzling), genannt wird, und eben den 125er, der schlicht "großer Fiat" heißt. Der wurde dann auch das Standardauto für die Polizei, den Geheimdienst.

Krankenwagen und Mafiosi-Mobil

Er wurde als Kombi sogar Krankenwagen, wobei der Kranke sich dort nicht ausstrecken konnte. Mit getönten Scheiben fuhren ihn die Mafiosi, wie auch in der großen Sowjetunion der Shiguli der Wagen sowohl der Gesetzeshüter wie der Gesetzesbrecher wurde.

Auf diese Weise schrieb der Shiguli auch mehrere Kapitel der sowjetischen Fernseh- und Filmgeschichte, wobei er eine einmalige Doppelrolle übernahm: Ihn fuhren bei waghalsigen Verfolgungsjagden sowohl die Jäger wie die Gejagten. Das hat kein westliches Auto geschafft. Sowohl in Polen wie auch der großen Sowjetunion beschränkte sich die Modellpflege über die Jahrzehnte vor allem auf die Veränderung der Scheinwerfer und Rücklichter.

Doch ist die Geschichte längst noch nicht zu Ende. Während der letzte "große Polski-Fiat" 1991 vom Band lief, wird der Shiguli immer noch gebaut. In Russland ist er längst zum Kultauto geworden. Sogar in die Literatur ist er eingegangen. So hat der Satiriker Wladimir Woinowitsch einmal beschrieben, welche Mühe es macht, diesen Wagen im Winter in Gang zu bringen - mit Aufheizen der Zündkerzen in der Küche und einem Spritzer Wodka in den Vergaser. Aktionskünstler haben ihm Pelze geschneidert und auf ihm Gras gepflanzt. Und mehrere Filmemacher haben ihm abendfüllende Epen gewidmet.

Ein Langweiler mit dem Charme von Herbie

Bis heute großer Beliebtheit erfreut sich die Komödie "Die Abenteuer der Italiener in Russland", in der die in Italien lebenden Enkel einer russischen Emigrantin einen während der Revolutionswirren versteckten Goldschatz jagen.

Iwan Dychowitschnyj hat ihm 2002 einen abendfüllenden Spielfilm gewidmet, das Drehbuch schrieb kein geringerer als der wegen seiner Literaturexperimente und -provokationen umstrittene Schriftsteller Wladimir Sorokin. Der Titel heißt so, wie das Auto: "Kopejka". Es sind Episoden um Liebe, Eifersucht, Treue und Verrat, bei denen ein Shiguli stets die Schlüsselrolle spielt, kleine Kabinettstückchen großer Kinokunst, ein satirischer Rückblick in die Sowjetzeit.

So hat es der 124 fast schon in eine Reihe geschafft mit dem heißen Käfer "Herbie", James Bonds Aston Martin oder Jerry Cottons schwarzem Jaguar E. Eine erstaunliche Karriere für einen Langweiler aus Turin.

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