Süddeutsche Zeitung

Automobile Gesichter:Blick nach vorn im Zorn

Das Autodesign gibt seine Zurückhaltung auf: Animalische Proportionen und aggressive Mimik sollen dem Vorausfahrenden unmissverständlich mitteilen, was von hinten naht - und so "Überholprestige" sichern.

Lutz Fügener

Überholprestige ist ein junges Wort für ein altes Phänomen im Straßenverkehr. Im Grunde geht es um ein einfaches Wechselspiel zwischen dem Senden von Zeichen, deren Wahrnehmung und dem daraus folgenden Verhalten - Wahrnehmungspsychologie in reinster Form.

Überholprestige kann ein durchaus brauchbares Regulativ für den Verkehr sein. Besonders hierzulande, wo man auf Autobahnen mit beträchtlichen Geschwindigkeitsunterschieden umgehen muss, ist ein früher Hinweis auf das Gemisch von Potenzial des Fahrzeugs und Intention des Fahrers ein hilfreicher Hinweis, um sein Verhalten der Situation anzupassen.

Näher betrachtet ist Überholprestige ein komplexer Zusammenhang aus Informationen, die bisher immer eines Kontextes beim Vorausfahrer bedurften. Er musste also in der Lage sein, die im Rückspiegel zu lesenden Zeichen auch zu deuten.

Zeit der kostümierten Automobile

In der Vorkriegszeit war es das Verhältnis von Kühlerhöhe zu Frontscheibenhöhe, das über das Potenzial des Autos Auskunft gab. Später, in Zeiten der Mittel- und Heckmotorsportwagen, wurde die Proportion von Breite zu Höhe zum allgemein ablesbaren Hinweis auf den zu erwartenden Bewegungsdrang des Hinterherfahrenden. Heute jedoch leben wir in der Zeit der kostümierten Automobile.

Informationen und Erfahrungen sind nötig, um die richtige Einschätzung zu treffen. Die leuchtenden Ringe im Scheinwerfer eines BMW erfüllen ihre Signalwirkung nur, wenn man sie erst den Fahrzeugen der Marke und diese dann dem mit ihr im Zusammenhang stehenden Ruf seiner sportlichen Fahrer zuordnen kann.

Das soll alles anders werden, so es nach dem Willen der Automobilhersteller geht. Wie gesagt: Überholprestige ist vermarktbar und der Kundschaft einen nicht unerheblichen Betrag wert. Also geht es darum, dieses gesteuert und zuverlässig einzubauen. So scheint jedenfalls die momentane Order des Marketings an die Automobildesigner.

Vor allem die Marken, die nicht ausschließlich Fahrzeuge der gehobenen Leistungsklasse vertreiben, sind da auf allgemein verständliche Zeichen ohne vorherigen Lernaufwand angewiesen. Das heißt: Unabhängig vom diffusen Markenimage muss selbst dem ungeübten oder gleichgültigen Verkehrsteilnehmer unmissverständlich mitgeteilt werden, was da von hinten naht.

Suche nach dem Gesicht

Die Designer greifen dazu in die Kiste der wahrnehmungspsychologischen Standards. Verlassen können sie sich hier auf die Tatsache, dass wir alle mit höchster Sensibilität dazu in der Lage sind, Gesichter zu lesen. Selbst in abstrakten Formgebilden wie im Beispiel der uns zugewandten Seite des Mondes suchen wir, ohne diesen Vorgang bewusst starten zu müssen, nach der Struktur eines Gesichts.

Diese aus sozialen Erfordernissen und aus der Evolution begründete Fähigkeit lässt uns auch in der Front eines Automobils stets ein Gesicht suchen und, nicht zuletzt aus Gründen der Zulassungsvorschriften über Beleuchtung, auch finden. Mit diesen automobilen Gesichtern mussten die Designer schon immer umgehen können.

Man konzentrierte sich bis in die neunziger Jahre auf den Gesichtsschnitt und versuchte, das Gesicht zwar nicht ausdruckslos, aber doch neutral und interpretierbar zu halten.

Animalische Proportionen

Mit dieser Zurückhaltung ist es scheinbar vorbei. Zum Schnitt des Gesichts kommt jetzt die Mimik, die bei jüngsten Modellen in bisher ungekannter Art unmissverständlich ist. Gesichter werden durch das Verhältnis und der Positionierung von Augen und Mund - oder besser gesagt Maul - mehr in animalischen als menschlichen Proportionen angelegt und dann mit einer entsprechend entschlossenen - bisweilen aggressiven - Mimik versehen.

Der durch nach innen gepfeilte und die Augen anschneidende Brauen erzeugte so genannte Falkenblick ist - sehr gerne in Verbindung mit besonders stechend bläulichem Xenonlicht - ein probates Mittel. Auch senkrechte, grob gerasterte Kühlerrippen und ihre Entsprechung in einer gefletschten Zahnreihe sind nicht neu, jedoch in dieser Ausprägung seither in Serienfahrzeugen vermieden worden.

Geblähte Nüstern und Backen, weit herabgezogene Mundwinkel und hängende Lefzen runden das Bild zu bislang ungekannter Eindeutigkeit ab. Konnten bisher noch Gesichter aus der Tierwelt als beschreibende Vergleiche benutzt werden, so muss man heute mitunter auf Kreaturen aus den Verfilmungen allseits bekannter Fantasy-Epen bemühen, um derer Wirkung gerecht zu werden. Das alles ist meist gestalterisch sehr professionell gemacht, gerade deshalb äußerst wirksam und erreicht so zuweilen den Grenzbereich des politisch Korrekten.

Ob sich dieser abzeichnende Trend verstärken wird, wird wie immer der Kunde und sein Geldbeutel entscheiden. In der Natur und so auch im Design sind auf Dauer die Gestaltungen am interessantesten, die eine Gratwanderung schaffen und so Raum zur Interpretation, Entwicklungs- und Anpassungsmöglichkeiten offen lassen.

Der Autor ist Professor für Transportation-/3D-Design an der Fachhochschule Pforzheim.

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Quelle:
SZ vom 03./04.06.2006
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