Automatischer Kopilot:Auto schlägt Mensch

Crashtests im Labor sind fehlerhaft. Deshalb soll die Bewertung künftig strenger werden. Für Bestnoten müssen Autos in Zukunft selbständig ausweichen oder stoppen. Nur: Wie soll das gehen?

Joachim Becker

Die chromblitzenden US-Straßenkreuzer der Fünfzigerjahre mit ihren gewaltigen Heckflossen waren Teil des amerikanischen Traums. Weniger schön war ihre Unfallbilanz: "Als würden Sie in einem Raum voller Messer durch die Gegend fahren", erinnert sich der amerikanische Verbraucheranwalt Ralph Nadar. In seinem Buch "Unsafe at any Speed" führte er 1965 die lebensgefährlichen Sicherheitsmängel vieler Autos seiner Zeit auf. Und die Politik reagierte: "Wir werden in Zukunft keine unsicheren Autos mehr akzeptieren", sagte Präsident Lyndon B. Johnson. Bis alle Neuwagen mit Sicherheitsgurten ausgeliefert wurden, dauerte es aber noch bis 1973. Ein Jahr später wurde der Lebensretter Nummer eins auch in Deutschland Pflicht.

Crashtest

Passive Sicherheitssysteme konnten in den vergangenen Jahrzehnten viele Unfälle lindern. Doch noch gibt es viel Verbesserungspotenzial.

(Foto: Mercedes-Benz)

Die USA sind bis heute das Vorbild bei der Einführung von Insassen-Schutzsystemen geblieben. Seit 2010 sind dort Abstandswarner und Spurhalteassistenten bei Neuwagen vorgeschrieben. Die Assistenzsysteme merken früher als der Fahrer, ob sich die Distanz zum Vordermann überraschend ändert oder das Fahrzeug aus der Spur gerät. Eine Kamera kann sowohl die Fahrbahnmarkierungen als auch den vorausfahrenden Verkehr im Blick behalten. Alternativ können Laserdetektoren (Lidar) oder Radarsysteme den Raum vor dem Fahrzeug abtasten und den Fahrer vor Hindernissen warnen. Die Technik- und Preisunterschiede solcher aktiven Sicherheitssysteme sind groß - gemeinsam ist ihnen aber, dass sie eine immer größere Rolle bei der Fahrzeugsicherheit spielen.

Beispiel ESP: Das elektronische Stabilitätsprogramm kann jedes einzelne Rad individuell abbremsen, wenn der Wagen auch nur ansatzweise ins Schlingern kommt. Weil kein Fahrer vergleichbar präzise reagieren kann, ist der Schleuderschutz in Europa seit 2011 für alle neuen Fahrzeugtypen und ab November 2014 generell für alle Neuwagen Pflicht. Den nächsten großen Fortschritt versprechen sich Experten von Auffahrwarnern und Notbremsassistenten: 17,5 Prozent aller Unfälle mit Getöteten und Verletzten in Deutschland sind Auffahrunfälle. Dass viele dieser Kollisionen vermeidbar wären, zeigt die Mercedes-Unfallforschung: Mehr als 90 Prozent der Testteilnehmer waren beim Tritt auf die Bremse zu zaghaft, konnten sich erst mit Verspätung zu einer wirklichen Vollbremsung durchringen oder reagierten erst gar nicht auf die Gefahrensituation.

Schärfere Bewertungskriterien beim Crashtest

Deshalb verschärft die Sicherheitsorganisation Euro NCAP nun auch ihre Kriterien beim Crashtest. Für eine Fünf-Sterne-Wertung reicht künftig nicht mehr das gute Zusammenspiel der passiven Rückhalte- und Partnerschutzsysteme aus. Die Höchstnote werden von 2014 an nur noch Autos mit aktiven Schutzsystemen erhalten. Bonuspunkte gibt es beispielsweise für einen Geschwindigkeitsassistenten, der Verkehrsschilder per Kamera erkennt und den Fahrer über die jeweils zulässige Höchstgeschwindigkeit informiert. Außerdem ist geplant, Auffahrwarner und Notbremssysteme schrittweise in das komplexe Bewertungsschema aufzunehmen.

Damit reagiert das europäische Konsortium aus Behörden, Automobilklubs und Versicherungsverbänden auf Kritik. Unfallforscher hatten bemängelt, dass die Crashtests im Labor nur einen Ausschnitt des realen Unfallgeschehens abbildeten. Während bei Euro NCAP auch Kleinwagen wie der VW Up oder Peugeot 208 die Höchstwertung erhalten, sind die Autozwerge in realen Situationen größeren und schwereren Unfallgegnern klar unterlegen.

Wie eng die Belastungsgrenzen sind, hat der ADAC 2008 mit einem Crashtest des Renault Laguna gezeigt. Obwohl mit fünf Sternen bei Euro NCAP ausgezeichnet, versagte die Sicherheitstechnik bei einem Frontalaufprall mit 80 statt der sonst üblichen 64 Stundenkilometer: Die Fahrgastzelle knickte ein, und das Lenkrad verschob sich in Richtung Innenraum. Auch Gurt, Gurtstraffer und Airbags konnten nicht verhindern, dass die Brust des Fahrers hart auf das Lenkrad prallte - mit potenziell lebensgefährlichen Folgen.

Aktiven Bremssystemen gehört die Zukunft

Automatische Notbremsassistenten könnten die Aufprallenergie entscheidend reduzieren. Noch besser wären aktive Systeme, die nicht nur bremsen, sondern Hindernissen auch geschickt ausweichen. Je rutschiger die Straße bei Regen, Eis oder Schnee ist, desto wichtiger wird diese Form der Unfallvermeidung. Ein geübter Fahrer braucht auf trockener Straße knapp 40 Meter, um ein Auto aus 100 km/h zum Stehen zu bringen - wenn er weiß, dass etwas auf ihn zukommt. In der Realität vergeht meist mehr als eine Schrecksekunde, bevor der Fahrer in die Pedale steigt. Doch auch wenn der Fahrer die letzte Chance zum Bremsen verpasst hat, gibt es oft noch die Möglichkeit, dem Crash auszuweichen. "Dieses Potenzial wird heute noch nicht aktiv in der Fahrsicherheit genutzt", sagt Peter Laier von Continental. Der Automobilzulieferer hat einen Ausweichassistenten entwickelt, bei dem Radarsensoren, Kamera- und Fahrwerksysteme mit der elektrischen Lenkung eng zusammenarbeiten.

Bei einer ersten Testfahrt verblüfft der automatische Kopilot mit scheinbar waghalsigen Manövern: Hält der Testwagen mit hohem Tempo auf ein Hindernis zu, errechnet das System in wenigen Millisekunden einen optimalen Ausweichvorgang. Kurz vor dem vermeintlichen Zusammenstoß lenkt das Fahrzeug selbständig auf die Gegenfahrbahn und wieder zurück. Das Zusammenspiel aus ESP und elektrischer Lenkung sorgt dafür, dass der Wagen dabei nicht ins Schleudern gerät. Dafür müssen vernetzte Sensoren den Verkehrsraum allerdings möglichst weiträumig und vor allem fehlerfrei überwachen.

Nächstes Jahr will Continental eine Stereokamera auf den Markt bringen, die Entfernungen und die Bewegungsrichtung von Objekten mit Computerhilfe viel schneller und genauer orten kann als bisherige Systeme mit einer Linse. Marktreif wird das neuartige Sicherheitssystem aber nicht vor 2016 sein: Die intelligente Vernetzung aller Daten muss sich erst noch auf Millionen Testkilometern bewähren. Sonst wird das eigenständig handelnde Auto zum Crashtest für die gesetzliche Herstellerhaftung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: