Autoland USA:Versagen ist Programm

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Fahren unter Vorbehalt: Warum in den USA Autos ungewollt beschleunigen und oft nicht zu bremsen sind.

Jörg Häntzschel

Es war eine Szene wie aus einem Film, der Albtraum jeden Autofahrers: Als der 61-jährige James Sikes Anfang März auf dem Freeway bei San Diego unterwegs war, beschleunigte sein Toyota Prius plötzlich unkontrollierbar. Bei 150 Kilometer pro Stunde trat Sikes auf die Bremse, doch der Wagen wurde nur noch schneller. Panisch rief Sikes die Polizei um Hilfe. Die nahm die Verfolgung auf und gab ihm per Lautsprecher Anweisungen. Als das alles nichts half, setzte sich der Streifenwagen vor den Prius und bremste ihn nach 50 Kilometer gewaltsam ab.

Millionen von Amerikanern sahen die dramatischen Szenen im Fernsehen. Sonderlich überrascht war freilich niemand. Seit Wochen hatte man von Toyotas gehört, die ihre entsetzten Insassen gegen Bäume und in Flüsse geschleudert hatten. Wie groß die Gefahr war, belegten schließlich auch drei Rückrufaktionen, mit denen Toyota weltweit über neun Millionen Autos zum Nachbessern in die Werkstatt gebeten hatte.

Während die US-Medien täglich neue Anekdoten von Killer-Toyotas auftischten, gingen einige besonnenere Autojournalisten ihrem Déjà-vu nach: Hatte man das nicht alles schon einmal erlebt? Richtig, in den Achtzigern, als der Audi 5000 wegen eines angeblichen mechanischen Problems regelmäßig spontan beschleunigte.

Nach ausführlichen Untersuchungen kam die US-Verkehrsbehörde damals zu dem Schluss, dass die Autos völlig in Ordnung waren. Der Grund war "Pedal-Fehlanwendung": Die Fahrer hatten statt auf die Bremse aufs Gas getreten. Auch an Sikes' Wagen konnte die Polizei keinerlei technische Mängel feststellen. Und seltsam: Alle Fälle von unkontrolliert beschleunigenden Toyotas traten in den USA auf. Sind also nicht die Autos das Problem, sondern die amerikanischen Fahrer?

Klar ist, dass ihre Fahr-Erfahrung sich von der der Europäer stark unterscheidet. Ein großer Teil der rund 20 000 Kilometer, die der Durchschnittsamerikaner pro Jahr zurücklegt, führt über leere Straßen und kaum besiedeltes Gebiet. Und weil deshalb auch reichlich Platz ist, wächst das Straßennetz anders als in Europa mit dem Verkehr einfach mit. Erst in den letzten Jahren begann man in großen Städten wie New York, den Verkehr mit Barrieren, Einbahnstraßen oder Grünstreifen zu zügeln, um Platz für Fußgänger und Radfahrer zu machen. Sonst jedoch bleibt es beim Ziel, das Autofahren, von dem Amerika viel stärker abhängt als europäische Länder, so bequem und effizient zu machen wie mit den knappen Steuergeldern möglich.

Eine Ausnahme ist das Tempolimit. Schon vor der Ölkrise durfte man auf den meisten Straßen nicht schneller fahren als 120 Kilometer pro Stunde. 1974 setzte die Regierung das neue landesweite Limit von 90 km/h durch, um den Ölverbrauch zu senken. Der Effekt war mit einer Ersparnis von etwa einem Prozent jedoch geringer als erwartet. 1987 wurde die Begrenzung auf 65 Meilen pro Stunde (105 km/h) angehoben; seit 1995 ist es den Bundesstaaten überlassen, ihr Höchsttempo festzulegen. Schneller als Tempo 120 darf man allerdings praktisch nirgends fahren, auch nicht auf einer Hunderte Kilometer langen schnurgeraden zehnspurigen Interstate-Autobahn durch die Felder von South Dakota oder die Wüste von Arizona.

Alle fahren also etwa gleich schnell. Riskante Überholmanöver erübrigen sich. Und wer die Cruise Control einschaltet, muss nur noch mit dem kleinen Finger das Lenkrad halten. Wer wie auf deutschen Autobahnen Aggressionen ausleben oder dem Traum von der Verschmelzung mit der Maschine nachjagen will, muss sich eine andere Arena suchen. Die Autos selbst sind Ursache und Konsequenz daraus: Rund 90 Prozent haben ein Automatikgetriebe. Sie sind perfekt geeignet für das ambitionslose Dahinschnurren. Die meisten Amerikaner haben nie gelernt, mit einer Schaltung umzugehen. Wozu auch?

Das Fahren selbst stellt also keine größere Herausforderung dar. Auch die Verkehrsregeln sind viel einfacher als in Europa. Statt der Rechts-vor-links-Regelung etwa, die ein gewisses Mitdenken voraussetzt, sind in Wohnstraßen sogenannte 4-Way-Stops üblich: Jedes Auto muss anhalten, wer zuerst kommt, darf die Kreuzung überqueren.

Die Zahl der Straßenschilder ist im Vergleich mit Deutschland gering, und statt der vermeintlich einfachen, tatsächlich aber nicht selten rätselhaften Symbole, die man im deutschen Verkehrswesen so liebt, setzt man in Amerika in der Regel auf einfache Worte: Stopp, Nicht Überholen, Vorsicht. Da gibt es nichts zu lernen. Die Führerscheinprüfung ist deshalb eine reine Formalität. In den meisten Bundesstaaten dürfen schon 15-, in einigen sogar 14-Jährige mit einem volljährigen Fahrer üben. Deshalb ist hier auch eine florierende Fahrschulindustrie, wie es sie hierzulande gibt, unbekannt. Schon mit 16 sind die meisten Jugendlichen im Auto unterwegs.

Doch gerade weil das Fahren so idiotensicher ist und entsprechend lax gelehrt wird, geht es auf Amerikas Straßen nicht selten gefährlich zu. Viele benützen den Blinker grundsätzlich nicht, andere kriechen mit überladenen Pick-ups auf der linken Spur dahin; vielen ist nicht klar, dass rechts Überholen verboten ist. Irrwitzige Manöver sind laufend zu beobachten. Während es in Deutschland gleich eine Massenkarambolage geben würde, verzeiht der Verkehr hier permanent viele kleine Fehler.

Die Unaufmerksamkeit hat aber auch mit dem Automatikgetriebe selbst zu tun: Die freie Hand ist wie eine Einladung, sich mit anderem zu beschäftigen. Frauen schminken, Männer rasieren sich auf dem Weg zur Arbeit; man isst, trinkt und liest Zeitung. Irgendwie will die viele Zeit, die man drastisch unterfordert im Auto zubringt, ja genützt sein.

Noch mehr als anderswo war das Auto in Amerika schon immer mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es stellt die symbolische Verbindung zu den Pferden der Cowboys und den Planwagen der Siedler dar. Millionen Teenagerpärchen nützen es als prüderiefreies Reservat für Rückbank-Sex. Und es erlaubt - mit dem Drive-Thru-Restaurant, dem Autokino und den 2008 eingeführten Drive-Thru-Wahllokalen - Privatheit, wo diese unmöglich erschien. Mit dem Boom der großen SUVs hat sich aber, von Amerika ausgehend, auch der Innenraum des Autos verändert. Mit Becherhaltern, DVD-Spieler, Leselampe und iPod-Anschluss hat es immer mehr Qualitäten von Wohnung und Arbeitsplatz angenommen.

Die mechanische Qualität der Autos ist damit noch unwichtiger geworden. Zumindest bis zum Ölschock von 2008 zählte Größe und Komfort, nicht Ingenieursgenie. Wie weit die Amerikaner - und wohl nicht nur diese - von der deutschen Technikmanie entfernt sind, zeigt sich auch daran, dass in 14 Bundesstaaten keinerlei Sicherheitsinspektionen vorgeschrieben sind und in 15 weiteren, darunter Kalifornien, lediglich ein Abgastest. Verfallende Technik ist hier kein Grund zur Panik. Auch die durchgerosteten Brücken werden schon noch ein bisschen halten, hofft man, und um die knietiefen Schlaglöcher in Manhattan müssen die Leute eben herumsteuern.

Das alles beantwortet aber nicht die Frage, wieso in den letzten Monaten gerade so viele Toyota-Fahrer aufs Gaspedal traten statt auf die Bremse. Liegt es daran, dass die meisten der Fahrer über 70 waren und auffällig oft an Diabetes litten? Plausibler ist wohl eine andere Erklärung. Zwar nimmt man es im Autoverkehr in den USA eher lässig. Bei anderen Gefahren des Alltags - heißem Kaffee, rohem Fleisch, Schwimmen ohne Aufsicht - wird hingegen rituell Alarm geschlagen. Und weil die Medien solche Aufreger lieben, wird aus einem winzigen Risiko schnell eine Bedrohung für Millionen. Anders ist schwer zu erklären, dass in diesem Jahr 300 Prius-Fahrer über spontan gasgebende Autos klagten, während es im gesamten letzten Jahr nur 74 waren und im Jahr davor acht.

Die Amerikaner mögen nicht schalten können, beim Fahren abgelenkt sein und ein distanziertes Verhältnis zur Technik haben, aber zwischen Gas- und Bremspedal können sie in aller Regel unterscheiden. Solange nicht eine medial angefachte Hysterie einige von ihnen aus der Fassung bringt.

© SZ vom 26.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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