Es gehört zur Jobbeschreibung eines Gewerkschaftschefs, sich Sorgen zu machen. Doch diesmal geht es um mehr. Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall, befürchtet, dass die Autoindustrie, die bislang als Erfolgsbranche der Republik galt, in die Knie geht. Der Dieselskandal könnte schon bald "etliche Tausend Arbeitsplätze" in der deutschen Vorzeigeindustrie kosten, schrieb Hofmann dem Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) in einem Brief. Die Bundesregierung möge "dringend Übergangslösungen" schaffen, damit sich die "Gesamtsituation in den Regionen und Betrieben nicht immer weiter aufheizt".
Die heftige Debatte über mögliche Einfahrverbote für Dieselautos in Innenstädte, über manipulierte Abgaswerte bei VW und die Gesundheitsgefährdung dieses Motortyps, der in etwa jedem dritten deutschen Pkw brummt, bringt eine deutsche Schlüsselbranche durcheinander. Bislang eilten VW, Daimler oder BMW samt ihren Lieferanten von Rekord zu Rekord. Doch seit Bürgermeister laut darüber nachgedacht haben, ihre Städte für Dieselautos zu sperren, halten sich die Kunden verunsichert zurück. Die Absatzzahlen für Dieselautos sinken. Das einst hohe Ansehen dieses Antriebs, der weniger Kohlendioxid ausstößt als vergleichbare Ottomotoren, sinkt drastisch. Der Autohersteller Volvo hat kürzlich als erster Anbieter sogar erklärt, er werde keine neue Generation von Dieselmotoren mehr entwickeln. Selbst wenn es nicht zu Fahrverboten kommen sollte: "Der Diesel ist nicht zu retten", urteilt Ferdinand Dudenhöffer, Professor für Automobilwirtschaft an der Universität Duisburg-Essen.
In Deutschland arbeiten 70 000 Menschen an der Entwicklung und Produktion von Dieselmotoren für Personenwagen. Würden diese Antriebe durch Ottomotoren ersetzt, wären bis zu 15 000 Arbeitsplätze überflüssig, rechnet die IG Metall vor. Möglicherweise sind es sogar mehr. Dieselmotoren sind komplizierter als Benziner, sie brauchen mehr Arbeitskräfte. Und dabei wird es nicht bleiben - es geht ja nicht allein um den Diesel.
Wegen des Klimawandels steht der Verbrennungsmotor insgesamt vor der Ablösung durch den Elektroantrieb. Wenn diese Umstellung kommt, wird es schwer für die Autobranche, die sich auf ihre alte Technologie verlassen hat. Weil Elektroautos schlichter gebaut sind als konventionelle, weil sie keine Ventile oder Getriebe brauchen, werden für die Herstellung ein Drittel weniger Arbeitskräfte benötigt. In der Branche würden im Zeitalter elektrischer Mobilität bis zu 250 000 Jobs wegfallen.
Der größte technologische Umbruch in der Geschichte dieser Traditionsindustrie wird aber nicht nur die Autoindustrie verändern. Er kann den Wohlstand des ganzen Landes beeinträchtigten, das zu den führenden Autonationen der Welt gehört.
In Deutschland arbeiten etwa 850 000 Menschen bei den Autoherstellern und ihren Zulieferern. Das entspricht 1,8 Prozent der Arbeitsplätze. Aber Branchenvertreter rechnen vor, dass auch Bäcker oder Friseure, bei denen die Autoarbeiter ihr Geld ausgeben, indirekt von dieser Industrie leben. Der Branchenverband VDA behauptet kühn, dass in Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz mit dem Auto zusammenhänge.
Die größte deutsche Industriebranche war 2016 mit 228 Milliarden Euro der mit Abstand wichtigste Exporteur und Devisenbringer der Republik vor dem Maschinenbau und der Chemie. Geht es der Fahrzeugindustrie schlecht, werden Politiker unruhig. Wann immer in den vergangenen Jahrzehnten die bisherige Rüsselsheimer General Motors-Tochter Opel ins Wanken kam, meldeten sich eilig Landes- und Bundespolitiker, um ihre Hilfe anzubieten. Der VW-Konzern ist für Niedersachsen so wichtig, dass das Land an dem Unternehmen sogar mit 20 Prozent beteiligt ist. Damit kann die Landesregierung verhindern, dass der Konzern in Niedersachsen eines seiner Werke schließt und den Arbeitsmarkt ins Rutschen bringt. "Die Automobilindustrie hat eine sehr hohe Bedeutung für Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland", sagt das Bundeswirtschaftsministerium über die Schlüsselindustrie.
Ölfirmen, Stromerzeuger und Autohersteller stehen vor dramatischen Umwälzungen
Und jetzt gehen die Zeiten der großen Erfolge zu Ende, von denen vor allem deutsche Anbieter von Premiumautos wie Daimler, BMW oder Audi profitierten. Die Automanager wiegeln noch ab, aber die großen Ölgesellschaften halten das Aufkommen der E-Fahrzeuge bereits für eine Bedrohung. "Die Zahl der Elektroautos auf den Straßen wird erhebliche Auswirkungen für die Autohersteller, die Ölfirmen, Stromerzeuger und andere haben", urteilt Colin McKarracher von der Londoner Forschungsfirma Bloomberg New Energy Finance. Bis 2040 werde jedes dritte Auto in der Welt einen Elektroantrieb haben.
Solche Zahlen verunsichern die bislang selbstbewusste Branche. Lange hat diese Industrie gezögert, die Elektrifizierung des Autos überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt stellen die Konzerne von BMW bis Volkswagen erstaunt fest, dass es nicht reicht, ein erfahrener Platzhirsch in der Branche zu sein. Jetzt müssen sie sich auf ganz neue Konkurrenten einstellen.
Der erst 2003 gegründete US-Konzern Tesla verursacht mit seinen Elektroautos bereits heftige Kopfschmerzen bei den klassischen Automanagern. Die junge Firma aus dem Silicon Valley macht zwar immer noch horrende Verluste mit ihren teuren Stromautos. Aber in diesem Jahr werden die flinken US-Neulinge schon etwa 100 000 Fahrzeuge verkaufen. In Deutschland setzen sie bereits mehr reine Elektroautos ab als die meisten anderen etablierten Hersteller, nur Renault liegt vor den Amerikanern. Tesla hat damit bewiesen, dass es möglich ist, in ein Geschäft einzubrechen, das die Großen fest in der Hand zu haben glaubten.
Der Betriebsrat der VW-Tochter Audi hat dem Management gerade Führungsschwäche vorgeworfen. Es sei keine Strategie zu erkennen, wie die Unternehmensleitung der Zukunft begegnen wolle, klagt Peter Mosch, der Chef des Betriebsrats. "Das muss sich ändern." Frank Iwer vom Vorstand der IG Metall sieht die Bundesregierung in der Pflicht: "Wir brauchen dringend eine industriepolitische Flankierung." Berlin müsse die notwendige Infrastruktur schaffen bei Ladestationen und Stromnetzen. Zudem benötige Europa eine eigene Fertigung für Batteriezellen, um nicht von China und Südkorea abhängig zu werden.
Vor allem aber müssten die Arbeitnehmer unterstützt werden, um vom Bau von Verbrennungsmotoren auf E-Autos umzusatteln. Dabei geht es nicht nur um die Handfertigkeiten, es geht um einen Kulturwandel.