Autofahren in China:Der große Traum des Li Qiang

China macht mobil - allein in Peking werden in jeder Woche 13.000 neue Autos zugelassen. Aus dem einstigen Fahrradland ist ein Autoland geworden.

Henrik Bork

Es ist seine erste Fahrt im eigenen Auto. Li Qiang ist nervös. Im Wagen riecht es nach Plastik, die Armaturen sind noch ungewohnt. Wenigstens kennt er den Weg genau, denn er hat schon vor Wochen entschieden, wohin es gehen soll. Um sieben Uhr abends an diesem Dienstag rollt Li auf den Hof seiner Firma im Pekinger Vorort Shunyi. Mehrere Kollegen laufen auf den schwarzen Kleinwagen der Marke Lingyue zu. Alle lachen und klopfen dem Auto auf die Motorhaube, so wie man einem Pferd den Hals tätschelt. Sie haben auf ihn gewartet, einer überreicht Li eine Liste mit zwölf Namen.

Li Qiang

Unterwegs in eine neue Welt: Li Qiang und seine nagelneue Lingyue-Limousine.

"Das sind die Zwölf, die sich als erste meinen Wagen ausleihen möchten", erklärt Li. Es ist eine Szene, wie sie sich in China täglich zehntausendfach abspielt. Am 11. Juli, vor acht Tagen, waren in Peking 4,39 Millionen Autos zugelassen - 13.000 mehr als in der Woche davor, sagt das Verkehrsamt. Dreizehntausend neue Autos allein auf den Straßen der Hauptstadt, dreizehntausend stolze Neubesitzer wie Li Qiang. Woche für Woche.

"Seit der Schule träume ich von einem eigenen Auto", sagt Li. Er ist 23 Jahre alt, hat gerade den Uniabschluss gemacht. Seit kurzem arbeitet er in einer Firma, die Parkettfußböden verlegt. Die 78.000 Yuan, rund 9100 Euro, die das Auto aus chinesischer Produktion gekostet hat, sind für Li viel Geld. Aber er hat kürzlich einen Bonus bekommen, die Familie hat etwas beigesteuert. Dann hat es für die Anzahlung gereicht. "Den Rest zahle ich in Raten ab", sagt Li. Drei Jahre lang.

Willkommen im Autoland China. Das Fahrradland China ist Vergangenheit. Noch Mitte der achtziger Jahre waren die Straßen Pekings ruhig, nur vereinzelte Kaderlimousinen bahnten sich hupend den Weg durch Schwärme von Radlern. Heute schlängeln sich auf denselben Straßen vereinzelte Fahrradfahrer durch den Autostau. Und erst jetzt explodiert die Zahl der privaten Autobesitzer so richtig. Ende März 2010 gab es in ganz China 192 Millionen Fahrzeuge - knapp fünf Millionen mehr als drei Monate zuvor, mehr als doppelt so viele wie 2003.

Anderthalb Stunden brauchte Li Qiang früher jeden Morgen zur Arbeit, als er noch den Bus nehmen musste. Diese fürchterlichen, vollgequetschten Pekinger Busse! "Ständig bleiben die alten Dinger liegen", klagt Li. Jetzt braucht er 30 Minuten, den zähflüssigen Verkehr auf dem vierten Ring eingerechnet. Abends steht er regelmäßig im Stau - und ist glücklich. "Jetzt mit dem Auto wird es kein Problem mehr sein, eine Freundin zu finden", sagt er. Junggeselle ohne Auto? - keine Chance auf dem Pekinger Heiratsmarkt.

Nirgendwo gibt es so viele Verkehrstote wie in China

Allerdings muss Li dazu bis zu seinem Hochzeitstag überleben, denn Millionen Anfänger sind auf Chinas Straßen unterwegs. Für den Führerschein wird in Fahrschulen außerhalb der Stadt geübt, die Prüfer sind bestechlich, die Lizenz käuflich. Der Straßenverkehr in Peking erinnert an das traditionelle Stierrennen in Pamplona, jedenfalls aus der Perspektive der Fußgänger. Rette sich, wer kann.

Ein ganzes Land voller Anfänger am Steuer. Niemand blinkt beim Wechseln der Fahrspur; mit einem kurzen Schwenker nach links oder rechts wird die eigene Absicht angedeutet. Und wenn es hupt, zieht man sich eben wieder zurück. Wird der Stau zu ärgerlich, geht es über den Bürgersteig weiter. Und wer auf der Autobahn eine Abfahrt verpasst hat, setzt auf der rechten Fahrspur in aller Ruhe zurück - und biegt dann ab.

Bei der theoretischen Führerscheinprüfung müssen die Chinesen pro Frage eine von drei möglichen Antworten ankreuzen - Multiple Choice. Die falschen Antworten lesen sich dabei wie eine akkurate Beschreibung dessen, was auf Chinas Straßen wirklich los ist. Zum Beispiel Frage 282. "Wenn Sie an einen Bahnübergang kommen, dann sollten Sie...a) Gas geben und schnell rüberfahren; b) nur Gas geben, wenn Sie einen Zug kommen sehen; c) abbremsen und sich vergewissern, dass eine sichere Überquerung der Gleise möglich ist." Oder Frage 77. "Beim Überholen eines anderen Fahrzeuges sollte der Fahrer...a) auf der linken Seite überholen; b) auf der rechten Seite überholen; c) wo auch immer, je nach Situation." Interessanterweise ist die dritte und letzte Antwort korrekt. Und in der Praxis wird selbstverständlich überall da überholt, wo auch nur die kleinste Lücke im Verkehrsfluss aufreißt.

Manchmal ist das alles komisch, manchmal auch nicht. Nirgendwo auf der Erde sterben so viele Menschen bei Autounfällen wie in China. 27.000 Unfalltote waren es der offiziellen Polizeistatistik zufolge in der ersten Hälfte dieses Jahres, 67.759 Tote waren es 2009. Es ist, als würde pro Jahr die Bevölkerung einer ganzen Kleinstadt ausgerottet. Und das sind bloß die offiziellen Unfallzahlen, von denen jeder weiß, dass sie geschönt sind. Und die vielen Amputationen! Die Chirurgen in der Provinz machen Überstunden; künstliche Oberschenkelknochen und dergleichen sind in China ein Wachstumsmarkt, interessant für ausländische Investoren. Doch wen kratzt es.

Dieser schwarze Lingyue aus der chinesischen Dongnan-Autofabrik in der Küstenprovinz Fujian war keineswegs Li Qiangs Traumwagen. "Wenn ich den abbezahlt und wieder Geld gespart habe, will ich einen VW", sagt er. Ein Modell namens VW Maitang. Oder einen Jetta, wie ihn sein bester Freund von seinem Vater geschenkt bekommen hat, damit er nicht mehr ständig mit dem Auto des Vaters rumfährt. Aber er müsse auch für die Hochzeit sparen, also könne es auch ein Mazda werden. Immerhin habe sein gerade erstandener Lingyue einen aus Japan importierten Motor, sagt er stolz. Von Mitsubishi.

Der Sprit ist billig, noch

"Neue Modelle bescheren der Volkswagen-Gruppe China Rekordverkäufe" steht über einer VW-Presseerklärung vom 12. Juli. 950.278 Autos hat VW in der ersten Hälfte des Jahres verkauft, 45,7 Prozent mehr als in der ersten Jahreshälfte 2009. Rekorde melden jubelnd auch BMW, Toyota oder Mercedes. China, Automarkt der Zukunft? Das war einmal. China ist längst der Automarkt der Gegenwart.

Alle Welt redet nun von Elektroautos, aber die Chinesen lieben dicke Brummer. In den Tiefgaragen der vornehmen Wohnviertel Shanghais oder Pekings, wo jene Beamte wohnen, die selbst so gut geschmiert sind wie Hochleistungsmotoren, parken die Statussymbole dicht an dicht: Toyota Land Cruiser, BMW X5, protzige Buicks, so groß wie kleine Schulbusse.

Der Sprit ist billig, sieben Yuan pro Liter, 82 Cent, subventioniert von einer kommunistischen Führung, die ganz klar das Entwicklungsmodell des Westens nachahmt. Auch wir hatten erst unsere Autoindustrie aufgepäppelt, bevor wir im Paradies mittelständischen Wohlstands angekommen waren.

Was dies alles für die Luft bedeutet, ist ein trauriges Kapitel. Beijing Air heißt ein kostenloses iPhone-App, das täglich den Grad der Verschmutzung anzeigt, gemessen an der US-Botschaft in Peking - von null bis 500. Der höchste, je in Berlin gemessene Wert auf einer vergleichbaren Skala lag bei 60. In Peking sind es in diesem Sommer meist so um die 350, Abteilung "gefährlich".

Li Qiang muss jetzt los. Er wird drei Freunde abholen. Im Auto werden sie kettenrauchend und fröhlich plaudernd zu einer Spritztour aufbrechen. Nach Huairou vor den Toren Pekings. Mit Vollgas über die Autobahn. Wenn nicht gerade wieder Stau ist.

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