Autofahren in China:Asphalt-Anarchie

China ist bald die größte Autonation der Welt. Die Verkehrskultur kann da aber noch nicht mithalten -ein Selbstversuch auf den Straßen im Reich der Mitte.

Sebastian Viehmann

Jetzt steht der Schweiß auf der Stirn. Die Hände umklammern das Lenkrad, die Augen wandern wie bei einem Tennisspiel hin und her und versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen: Vorn an der Kreuzung huschen Autos, Busse und Moped-Taxen in einem Affenzahn kreuz und quer, rechts neben dem Wagen drängt sich ein Motorroller nach vorn, links quetscht sich ein dicker Lastwagen höchsten zwei Zentimeter am Außenspiegel vorbei. Jetzt auch nur eine Sekunde daran zu denken, wer hier mitten in der südchinesischen Provinz Hainan womöglich Vorfahrt haben könnte, hat schon verloren.

Also mogelt man sich irgendwie durch. Gas geben, bremsen, dicht aneinander vorbei fahren, wieder ein Rundumblick - ist der Mann mit dem Kind auf dem Mofa jetzt schon am Auto vorbei oder nicht? Dann plötzlich eine Ampel, sie springt gleich auf rot. Anhalten oder weiterfahren, fragt man sich unwillkürlich. Besser stehen bleiben - drei VW Jetta-Taxis sind schon mit Vollgas in die Kreuzung eingefahren, gefolgt von einem Lastwagen und Motor-Rikschas, die um den Brummi herum schwirren wie die Flugzeuge um King Kong auf dem Empire State Building.

1,3 Milliarden Menschen leben in China, das Fahrbahnnetz ist mit 3,6 Millionen Kilometern das zweitlängste der Welt - nur die USA verfügen über noch mehr Straßen. Und: Nur zwei von 100 Chinesen besitzen ein Auto, in Deutschland sind es 56 von 100. Im Jahr 2020 aber könnte nach einer Prognose des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes bereits mehr als jeder zehnte Chinese ein Auto besitzen.

Es gilt also, auf der Straße keinen Platz zu verschenken. Chinesen verstehen Fahrbahnen eher als vollvariablen Verkehrsraum, den sich alle Fahrer möglichst kreativ untereinander aufteilen. Auch dass einem Autos oder Roller mitten auf der eigenen Spur entgegen kommen, ist nicht selten. Die Straße endet da, wo kein Asphalt mehr ist oder die Schlaglöcher nahtlos in die Landschaft übergehen.

Der Zustand der Straßen schwankt enorm

So wie auf der Schnellstraße: Zunächst freut man sich über den geringen Verkehr und gewöhnt sich an Lkw, die grundsätzlich auf der linken Spur fahren. Dann kommt die Ausfahrt - wenn man sie verpasst, folgt vielleicht erst in 30 Kilometern die nächste. Also voll in die Eisen steigen und rechts rüberziehen. Der Wagen fährt jetzt nur noch 30 km/h - zum Glück: Die Schlaglöcher in der Ausfahrt haben zusammen das Ausmaß einer Einzimmerwohnung. Schnell lenkt man den Wagen um die ärgsten Löcher herum und macht gleich wieder große Augen. Straßenhändler haben fast die Hälfte der Fahrbahn eingenommen und winken mit ihren Waren. Das Schwein, das im nächsten Örtchen fast vors Auto läuft, kann einen da schon nicht mehr aus der Fassung bringen.

Der Zustand von Chinas Straßen schwankt enorm: Gerade in den großen Zentren wie Shanghai oder Peking sind sie gut ausgebaut und oft besser in Schuss als in vielen deutschen Städten. Je weiter man sich von den großen Citys entfernt, desto herber wird es in der Regel. Gewaltige Risse, zehn Zentimeter hohe Gullydeckel mitten auf der Fahrbahn oder imposante Bodenwellen wechseln sich fast regelmäßig ab.

Warnschilder vor solchen Hindernissen gibt es fast nie. Macht aber nichts, denn viele Schilder bestehen ohnehin nur aus chinesischen Zeichen und bleiben für westliche Augen rätselhaft. Im Zweifel gilt daher die Faustregel, das "Reich der Mitte" wörtlich zu nehmen: Nie rechts oder links fahren, sondern immer schön in der Mitte der Fahrbahn - da gibt es die wenigstens Überraschungen.

Natürlich gibt es auch in China Verkehrsregeln und ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, die Polizei greift zum Beispiel bei Alkoholsündern immer härter durch. In modernen Städten wie Shanghai fühlt man sich nicht gefährdeter als in Athen, Paris oder Moskau - wenn man nicht gerade auf dem Fahrrad sitzt.

Das Motto lautet: einfach mal fahren

Das Motto lautet dennoch: Wir fahren einfach mal aufeinander zu, der Rest gibt sich dann. Warten gilt nicht, man wird immer weiter gedrängt wie bei einer Schlange in der U-Bahn. So ist der Verkehr überraschend flüssig und erinnert den Betrachter irgendwie an sich kreuzende Ameisenstraßen. In der Crash-Statistik haben Ameisen allerdings die besseren Karten. Trotz deutlich sinkender Unfallzahlen in den letzten Jahren sind 2009 nach offiziellen Angaben immer noch 68.000 Menschen auf Chinas Straßen ums Leben gekommen.

Die schwächsten Glieder in der Kette sind Fußgänger, gefolgt von den zahllosen Zwei- und Dreiradfahrern. In den Städten wird fleißig geradelt, in den ländlichen Regionen beherrschen Mopeds und Dreiräder von der Motor-Rikscha bis zum Kleintransporter den Verkehr. Nur wenige Fahrer tragen Helme. Nachts ist man froh, wenn wenigstens ein paar der Kleinstvehikel beleuchtet sind und man den Rest nicht übersieht.

Die chinesischen Behörden akzeptieren zwar den Internationalen Führerschein nicht, Ausländer können aber trotzdem hinters Steuer - wenn sie eine spezielle, zum Teil zeitlich begrenzte Fahrerlaubnis beantragen. Dazu gehört eine Prüfung, die in manchen Punkten ziemlich skurril ist. Bei der Frage etwa, wie man sich als Fahrer bei einem drohenden Auffahrunfall verhalten soll, lautet die richtige Antwort: Die Beine auf den Beifahrersitz legen. Offenbar verspricht man sich davon ernsthaft eine Reduzierung des Verletzungsrisikos.

Das Tempolimit liegt in China übrigens bei 60 km/h in der Stadt und 100 bis 120 km/h auf Schnellstraßen und Autobahnen. Die Geschwindigkeit wird an vielen Stellen mit Kamera-Brücken überwacht, die automatisch die Nummernschilder lesen. Das ist praktisch für die Behörden und ärgerlich für Raser: Dem Halter des Wagens wird die Strafe direkt vom Konto abgebucht.

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