Süddeutsche Zeitung

Autofahren im Alter:Verzicht bedeutet Kapitulation

Irgendwann kommt der Tag im Leben, an dem man weiß: Man braucht kein Auto mehr. Man kann auch Bahn fahren. Oder Bus. Das Problem ist nur, dass man das eigentlich gar nicht will.

Von Gernot Sittner

Es ist ja keineswegs so, dass man vom Altsein überrascht wird, dass es plötzlich und unerwartet wie ein Schicksalsschlag auf dich hereinbricht. Du hast lange genug, viele, viele Jahre, Zeit, dich darauf vorzubereiten. Und es muss keineswegs eine schreckliche Vision sein. Du kannst dem Unausweichlichen auch gute Seiten abgewinnen.

Wenn du einmal in Rente gehst, wenn du dir nicht mehr den täglichen Stau in der Lindwurmstraße antun musst, dann, so habe ich mir schon geraume Zeit vor diesem Termin ausgemalt, dann kannst du es dir leisten, aufs Auto zu verzichten. Von dem schönen Geld, das du dann sparst, zweigst du etwas für eine Jahreskarte beim MVV und eine Bahncard ab, und vielleicht ist auch ein neues Fahrrad drin. Kein TÜV, keine teure große und kleine Inspektion mehr, keine Kratzer und Dellen in der Karosserie; die Preisschilder an den Tankstellen müssen dich nicht mehr interessieren. Dein Fahrrad braucht auch keine Winterreifen. Du genießt eine neue Freiheit und Unabhängigkeit.

Es kam dann doch anders, weil es eben schwerfällt, lieb gewordene Gewohnheiten abzulegen. Sich vom Auto zu trennen, das ist zwar nicht so beklemmend irreversibel wie der Entschluss, den Führerschein abzugeben, aber du vertagst es doch von einem Monat auf den anderen. Und schließlich gibt es auch für einen Rentner noch gute Gründe, sich ein Auto zu halten. Soll ich die Gartenabfälle vielleicht im Handkarren zum Wertstoffhof fahren?

Mittlerweile muss ich diese Frage bejahen. Schwerer Getriebeschaden nach mehr als 300 000 Kilometern. Es stand nicht dafür, noch viel Geld für eine Reparatur auszugeben. Aber irgendwie war es dann doch ein wehmütiger Abschied. Der Käufer, dem ich auch noch die Winterreifen gratis anbot, lehnte dankend ab: Dort, wo mein Auto künftig unterwegs sein werde, brauche man so etwas nicht.

Jetzt fahre ich schon länger als ein Jahr Fahrrad, MVV und Bahn, und noch immer ist nicht abzusehen, wann und wie diese Phase der Unentschiedenheit zu Ende gehen wird: aufs Auto verzichten oder doch rückfällig werden? Es gibt ja so viele Gründe dafür und dagegen.

Von den Kosten für Anschaffung und Unterhalt einmal abgesehen: Gebietet es nicht die Altersklugheit, auf die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr zu verzichten? Die meisten meiner Altersgenossen sehen es offensichtlich nicht so: Mehr als zwei Drittel der über 65-Jährigen haben noch ihren Führerschein und machen davon Gebrauch; jeder Dritte setzt sich fast täglich hinters Steuer. (Der Fachmann spricht von "selbstbestimmter Mobilität".) Fast zwei Millionen Menschen im Alter zwischen 75 und 84 besitzen ein Auto. Der demografische Wandel, der medizinische Fortschritt tragen dazu bei, dass sich die Zahl der Autofahrer über 65 weiter erhöhen wird.

Wir Älteren, so wird uns oft vorgehalten, sehen schlechter, das Gedächtnis lässt nach, wir reagieren langsamer, unsere Aufmerksamkeit lässt zu wünschen übrig, wir sind nicht mehr so beweglich, es fällt uns deshalb schwer, beim Abbiegen den gebotenen Blick über die Schulter zu werfen. Das alles führt dazu, dass wir vor allem in komplizierten Situationen, auf Kreuzungen, wenn es zum Beispiel darum geht, schnell zu erkennen, wer nun Vorfahrt hat, zu langsam oder falsch reagieren. Fazit: Die Alten am Steuer bedeuten ein großes Risiko für alle anderen Verkehrsteilnehmer.

Wir können uns damit trösten, dass die Experten es nicht so sehen. "Die Älteren sind kein Risikofaktor", konstatierte ein renommierter Unfallforscher vor Kurzem. Sie seien an Unfällen im Straßenverkehr weniger beteiligt als andere Altersgruppen: Frauen und Männer über 65 machen zwar 20 Prozent der gesamten Bevölkerung in Deutschland aus, seien aber nur zu zehn Prozent in Unfälle verwickelt. An Unfällen "mit Personenschaden" sind - eine Statistik aus dem Jahr 2006 - Menschen im Rentenalter im Vergleich zu allen anderen Altersgruppen am wenigsten beteiligt. Fehler beim Überholen oder Fahren unter Alkoholeinfluss tauchen bei Älteren als Unfallursachen relativ selten auf. Und das Risiko, tödlich zu verunglücken, ist für die über 65-Jährigen keineswegs größer als für junge Fahrer zwischen 21 und 24. Andererseits lässt sich mit der Statistik auch belegen: Je älter der Autofahrer, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er, wenn es mal kracht, die Schuld trägt. 2010 zum Beispiel waren es bei den über 75-Jährigen drei von vier unfallbeteiligten Autofahrern.

Aber was helfen mir alle Statistiken in meiner Unentschiedenheit? Soll ich verzichten oder mich wieder auf den Automarkt begeben? In einer Metropolregion wie München sagt die Vernunft: Ein Auto muss nicht sein, nicht einmal wegen der Gartenabfälle. Wie viel Bequemlichkeit lässt sich vertreten? Welcher elektronische Schnickschnack ist seniorengerecht, was überflüssig? Alles Fragen, auf die ich mir die Antwort gerne ersparen möchte.

Andererseits: Irgendwie kommt der Verzicht einer Kapitulation gleich. Autofahren ist auch eine sportliche Angelegenheit, die mir Konzentration und Disziplin abverlangt. Nicht dass ich mich auch nur im Mindesten mit Rennfahrern vergleiche, aber jedes Mal, wenn ich mich hinters Steuer setze, sollte ich gleichsam die Fahrprüfung wiederholen, die ich vor mehr als 50 Jahren abgelegt habe. Ich teste meine Fitness.

Wenn ich dabei versage, ist das meine Sache; verhängnisvoll wird es nur, wenn ich - durch einen Verkehrsunfall - andere zu Opfern dieser Prüfung mache. Die Fachleute empfehlen deshalb regelmäßige Vorprüfungen beim Hausarzt. Weil sich viele gesundheitliche Beeinträchtigungen meist schleichend einstellen, raten sie dazu, Sehkraft, Gehör, Beweglichkeit, Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, die Funktion von Herz, Leber und Nervensystem regelmäßig untersuchen zu lassen. Von einem gesetzlich vorgeschriebenen Gesundheits-TÜV halten sie, ziemlich unisono, gar nichts; sie appellieren vielmehr an die Eigenverantwortung der älteren Autofahrer. Auch den Besuch von Trainings und Seminaren, wie sie der Deutsche Verkehrssicherheitsrat, die Automobilclubs oder die Verkehrswacht anbieten, kann ein 75-Jähriger sportlich nehmen.

Aber wer lässt es sich schon gerne schriftlich geben, dass die Sehschärfe oder das Gehör nachlässt? Auch wer allein vor seinem PC sitzt, muss sich erst einmal überwinden, einen Gesundheitscheck im Internet zu absolvieren. Aber zur Belohnung liest er dann, wenn's gut geht, stolz: "Sie haben 18 von 18 Symbolen richtig erkannt. Ihre Sehschärfe ist optimal." Den Rat, trotzdem "jährlich einen Sehtest bei einem Optiker oder Augenarzt durchführen zu lassen", nimmt er dankbar entgegen.

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SZ vom 02.03.2013/goro
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