Autodesign der Zukunft:Sinn und Sinnlichkeit des Mercedes-Designs

Design-Skulptur der neuen Mercedes A-Klasse

Diese Studie der nächsten A-Klasse-Limousine hält sich an klassische Proportionen mit Raubtier-Gesicht.

(Foto: Daimler AG)

Schöne Formen sind entscheidend für Daimlers Erfolg. Und sie werden immer wichtiger. Schließlich soll ein Mercedes in Zukunft aus der Masse der sterilen Robotertaxis herausstechen.

Von Joachim Becker

Sex sells - schöne Kurven steigern den Absatz. Es müssen ja nicht gleich die leicht bekleideten Hostessen auf den Automessen sein. Bei stilvollen Marken werden die Rundungen im Blech zum Blickfang. Zum Verlieben schön sollen Autos sein, um Käufern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dieter Zetsche weiß, wie groß diese Anziehungskraft ist: "Unser Designteam unter der Führung von Gorden Wagener zählt zu den Besten der Branche", sagt der Daimler-Chef, "der weltweite Absatzerfolg unserer Fahrzeuge basiert letztendlich auch auf ihrem herausragenden Design."

Schönheit entsteht bekanntlich im Auge des Betrachters. Unterfüttert mit nackten Zahlen wird sie allerdings zum schlagenden Argument: Mercedes hat BMW nach über zehn Jahren als absatzstärkste Premium-Automarke abgelöst. Entscheidenden Anteil daran hat das aufsehenerregende Re-Design der Mercedes A-Klasse. Innerhalb weniger Monate hatte der neue Design-Chef Gorden Wagener aus dem unattraktiven Vernunftauto einen kleinen Verführer mit viel Drama gemacht. "Die A-Klasse hat extrem viele Linien, um den Neuanfang zu unterstreichen", sagt Wagener schmunzelnd, "damit haben wir auch den Schritt vom traditionellen zum modernen Luxus sichtbar gemacht."

Der Tabubruch in der damals leicht angestaubten Mercedes-Welt hat sich bezahlt gemacht: "Seit 2012 haben wir weltweit über zwei Millionen Kompakte verkauft. In den USA ist jeder zweite Käufer eines Mercedes-Kompaktmodells ein Neukunde für unsere Marke", jubelt Dieter Zetsche. In Europa sei das Durchschnittsalter der A-Klasse-Kunden gegenüber 2011 um mehr als 13 Jahre gesunken. Ein Erfolg, für den Gorden Wagener jüngst zum Chief Design Officer befördert wurde. Der Top-Kreative steht als Führungskraft direkt unter dem Vorstand. Kein Baureihenleiter oder Chef-Motorenentwickler hat mehr Macht bei Daimler. Aus dem Amt für Formgebung, das bei vielen Herstellern nachgelagert ist, wird eine strategisch und operativ wichtige Zentralstelle für Zukunftsfragen.

Selbstbewusst denkt Gorden Wagener bereits über die Grenzen der Branche hinaus: "Für mich ist Mercedes nicht primär eine Automarke, sondern ein internationales Designer-Label. Wir wenden den Stil unseres Hauses auch auf andere Luxusprodukte an." Interieurs für Jets, Boote und Luxus-Appartements samt Lampen und Polster werden von den rund 600 Experten gestaltet. Nicht zu vergessen die immer wichtigeren digitalen Lebenswelten im Interieur. Für ein Design-Buch hat das Team eigens eine "Mercedes Future World" entworfen: ein Planet der ewig jungen Superreichen, auf dem soziales Elend ausgeblendet wird. "Als Designer wollen wir die Welt zu einem besseren Ort machen", rechtfertigt Wagener den Hardcore-Science-Fiction: "Wenn man keine verrückte Ideen hat, kommt man als Designer zu nichts."

Top-Kreative stehen momentan hoch im Kurs

Die direkten Konkurrenten versuchen derweil mit Studien für Aufbruchstimmung zu sorgen. Am Audi Q8 Showcar sieht man, wie viel Mühe Audi-Chefdesigner Mark Lichte mit der gestalterischen Renaissance der Marke hat. BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich verspricht seinerseits mehr Mut im Design - nach dem BMW 7er und 5er nicht ganz grundlos. Zu spät kommt die Initiative gegen Langeweile für Karim Habib. Der oberste Formgeber der Kernmarke hat BMW vor wenigen Tagen verlassen. 2016 war bereits Mini-Chefdesigner Anders Warming zu Borgward gewechselt: ein kritischer Verlust von Talenten.

Top-Kreative stehen momentan hoch im Kurs. Neue Elektro-Marken ohne Historie suchen dringend ein unverwechselbares Profil. Denn die hochgebockten Stromer drohen alle gleich auszusehen. In Zeiten des autonomen Fahrens wird das individuelle Gesicht in der Menge noch entscheidender. Denn Robotertaxis werden in zehn Jahren technisch auf der Höhe der Zeit sein. Was man von einem mehrere Jahre alten Privatauto nicht behaupten kann.

Warmer Gegenpol zur sterilen, digitalen Welt

Deshalb legt Gorden Wagener so viel Wert auf den Sex-Appeal seiner Kreationen: als sinnlich-warmer Gegenpol zur mitunter sterilen, digitalen Welt. "Unsere Designer fragen sich immer: Ist es hot und cool? Bringt es mich also dazu, es haben zu wollen - was ich für den Luxusmarkt sehr wichtig finde", sagt Wagener: "Wenn es irgendwann autonome öffentliche Verkehrsmittel gibt, müssen wir uns mit Luxus klar vom Mainstream unterscheiden."

Gutes Design soll also viel mehr sein als von betörender Schönheit: Es muss technische Innovationen als Gesamterlebnis mit Wow-Effekt inszenieren. Wie schwierig die Balance zwischen Emotion und Intelligenz ist, zeigt der Besuch jeder Automesse: Wie in einer Geisterbahn reihen sich uniform-unstrukturierte Blechkörper mit austauschbaren Innenräumen aneinander. Weil die Proportionen vieler SUVs nicht stimmen, werden sie durch unzählige Sicken und Kanten portioniert. Das Mercedes-Team arbeitet am Gegenteil: perfekte Proportionen, organische Formen und fließende Oberflächen. Wageners Motto: "Wenn du das Design magst, nimm eine Linie weg. Wenn du es dann immer noch magst, nimmt noch eine Linie weg."

Von den 30er-Jahren beeinflusst

Zaubern können aber auch die Stuttgarter nicht. Das massige SUV-Coupé GLE zeigt die Grenzen des guten Geschmacks. Während Wagener bei den Limousinen eine leicht abfallende Seitenlinie propagiert, braucht der hohe Allradkraxler eine leichte Keilform. Eine Studie der A-Klasse-Limousine hält sich dagegen an klassische Proportionen mit Raubtier-Gesicht: "Unsere Skulptur Aesthetics A zeigt, dass auch in der Kompaktwagenklasse so etwas wie unser Panamericana-Grill der GT-Modelle möglich ist. Das wird bei aller Modernität und Reduktion ein sehr sportliches Auto."

Wie beim neuen E-Klasse-Coupé soll der Kompakte 2018 athletische Idealmaße bekommen: lange Motorhaube, weit zurückgesetztes Glashaus und eine Kabine, die hinten schmaler wird. Die schlanke Taille mit breiten Schultern über den Hinterrädern nennt Wagener Coke-Bottle, also Cola-Flasche. Klar, dass so ein moderner Klassiker weitgehend ohne Linien auskommt. "Wir sind unter anderem durch Veranstaltungen wie den Concours d'Elegance in Pebble Beach auf diese Formen gekommen. 30er-Jahre, Art déco, Streamline. Das hat mich definitiv beeinflusst", erzählt Wagener. Auch die durchgespannten Coupé-Formen des CLS finden sich in vielen Modellen wieder. Fragt sich nur, was davon bei Elektroautos übrig bleibt: Die jüngste Mercedes EQ-Studie könnte ein SUV mit konventionellem Motor sein.

Das Mercedes-Design wechselte mehrfach die Richtung

Die Antwort auf die zentrale Frage bleibt Wageners Team bislang schuldig: Werden die Stromer so Van-artig wie die erste A-Klasse? Deren äußerlich kaum konturierten "Monospace" hat die F 015-Studie von 2015 auf die Spitze getrieben: Im Innern des Flügeltürers sorgt eine Lounge mit drehbaren Sitzen für den Komfort wie in einem Business-Jet. Doch die Ufo-Optik mit niedlichem Licht-Grill ist nicht als Mercedes erkennbar. Prompt haben sich die Stuttgarter in ihrer IAA-Aerodynamik-Studie im Herbst 2015 wieder zur langen Motorhaube und dem weit zurückgesetzten Glashaus bekehrt. Allerdings mogelt sich die Studie mit Ausbuchtungen im Glasdach um die fehlende Kopffreiheit der Passagiere herum.

Den Designern steht ihre eigentliche Bewährungsprobe also noch bevor: Künftig dürfte der Premium-Hersteller vorne liegen, der sein Markenerbe am überzeugendsten in die Formen eines neuen Zeitalters transformieren kann.

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