Die Autohersteller gehören zu den größten Lederverarbeitern der Welt. Neuerdings umwerben sie jedoch ein Leipziger Start-up: "Good bye animal farming, hello biofabrication!", so das Firmenmotto. Die Sitzbezüge von Scoby Tec sehen nach Leder aus, bestehen aber aus bakterieller Zellulose - gezüchtet mithilfe von Pilzkulturen im Labor.
Vegane, nachhaltige Materialien liegen im Trend - auch im Fahrzeuginterieur. "Viele große Marken der Autoindustrie bieten mittlerweile umweltfreundliche vegane Innenausstattungen an, für die kein einziges Tier leiden musste", erklärt die internationale Tierrechtsorganisation Peta: "Aber einige Unternehmen fahren immer noch auf der langsamen Spur."
Recyclingmaterialien aus alten Teppichen und Fischernetzen
Die Umstellung fällt schwer: Sitze, Lenkräder, Schaltknäufe - selbst in der Kompakt- und Mittelklasse sind diese Bauteile heute oft serienmäßig mit Leder ummantelt. Auf 50 Millionen Tierhäute pro Jahr schätzt Peta den Verbrauch, hinzu kommt Wolle vom Schaf, das Stoffsitzen beigemischt sein kann. Kleb- und Schmierstoffe enthalten ebenfalls häufig tierische Produkte.
Als Pionier der veganen Bewegung gilt Tesla. Auf Drängen von Kunden kündigte der US-amerikanische Hersteller bereits 2016 lederfreie Komponenten für seine Elektroautos an. Inzwischen sollen Model Y und Model 3 komplett vegan erhältlich sein. Aber auch bei den deutschen Herstellern mit traditionell hohem Ledervolumen tut sich einiges.
Bei Mercedes können die Kunden inzwischen aus verschiedenen lederfreien Alternativen wählen. In der E-Klasse etwa für Sitze oder Dachhimmel aus Dinamica: Die Mikrofaser hat eine Veloursoptik und -haptik, besteht aber vor allem aus recyceltem Polyester. "In der neuen S-Klasse bieten wir mit dem Material Econyl ein Rezyklat an, das aus wiederverwerteten Teppichen und Netzen besteht, die aus dem Meer gezogen werden", ergänzt ein Unternehmenssprecher.
Dinamica ist auch bei Audi neu im Programm und löst dort das teure Velourskunstleder Alcantara ab. Im neuen Audi A3 sind laut Unternehmensangaben zudem erstmals optional und ohne Aufpreis Sitzbezüge mit Stoffmittelbahnen bestellbar, die zum großen Teil aus recycelten PET-Flaschen gefertigt sind. Besonders nachhaltig soll der jüngst vorgestellte E-Tron GT sein. Das vollelektrische Coupé gibt es nicht nur mit lederfreiem Interieur, die gesamte Produktion erfolge "bilanziell CO₂-neutral", verspricht Audi.
Tatsächlich geht es nicht nur um die Vermeidung von Tierleid, sondern auch um Ressourcenschonung. "Global muss die Haltung und Schlachtung von riesigen Rinder- und Schafherden schnellstmöglich reduziert werden, um die Folgen des Klimawandels abzufedern", fordert Frank Schmidt von Peta Deutschland. Die Methanemissionen sowie der Raubbau für Weideland und Futteranbau seien untrennbar mit Leder und Wolle verbunden. Dazu kommt der aufwendige Veredelungsprozess. Um aus Tierhaut Leder zu machen, sind laut Peta 130 verschiedene Chemikalien erforderlich - einschließlich Cyanid. Wegen strenger Umweltauflagen in den Industrienationen sind die meisten Gerbereien längst in Dritte-Welt-Länder abgewandert.
Bei Scoby Tec in Leipzig war es eine Motorradweste, die zur Initialzündung des Start-ups wurde. Die Westen für Biker sind traditionell aus Leder, Designstudenten der Kunsthochschule Halle entwickelten dagegen ein nachhaltiges Kleidungsstück aus bakterieller Zellulose. Das im Labor gezüchtete Material ist komfortabel, reißfest und atmungsaktiv wie Leder, hat aber eine viel bessere Ökobilanz.
Kuhhaut bringt all die Probleme der Massentierhaltung
"Größtes Problem der Lederbranche ist der immense Wasserverbrauch. Bis zu seiner Schlachtung gehen bei der Haltung eines Rindes 80 Liter pro Tag drauf", rechnet Produktmanager Schipper vor: Umgerechnet auf einen Quadratmeter Leder seien das 7550 Liter Wasser. Um die bakterielle Zellulose zu züchten, würden insgesamt nur 60 Liter benötigt. An Nährmasse sollen sich die Bakterien bei Scoby Tec für einen Quadratmeter Material sechs Kilogramm genehmigen, verglichen mit 4800 Kilogramm Futter für einen Quadratmeter Leder, so Bernhard Schipper. "Das ist enorm."
Nun gibt es mit Kunstleder schon lange eine vegane Alternative. Doch vegan bedeutet längst nicht umweltfreundlich. Klassisches Kunstleder ist häufig auf latex- oder erdölbasierten Trägern aufgebaut. Nach der Nutzung landen Kunststoff-Rückstände massenhaft in den Weltmeeren, auch das Recycling ist aufwendig. Besser will es Piñatex machen, mit dem bereits Skoda experimentiert hat. Dessen Fasern etwa für Fußmatten im Auto werden aus den Blättern des Ananasbaums gewonnen. Doch Kritiker monieren, dass die Verbundstoffe aus erdölbasierten Harzen sowie PLA (Polymilchsäure) bestünden. Von einem biologisch abbaubaren Produkt könne man daher nicht sprechen.
Autokäufer müssen also genau hinsehen. In einem aktuellen VW Golf sollen sich immerhin "deutlich über 100 Bauteile" befinden, die nachwachsende Rohstoffe enthalten, sagt Benedikt Griffig, Sprecher für Technologie und Innovationen bei Volkswagen. Der Wolfsburger Konzern gehört laut Peta zu den Herstellern, die bislang eher wenig an veganen Ausstattungsoptionen anbieten.
"In unserer Berichterstattung an Peta gehen wir konsequent und ehrlich vor", erklärt Griffig. Die Innenausstattungen der Fahrzeuge bezeichne man erst dann als vegan, wenn sich darin ganz sicher keinerlei tierische Reststoffe aus der Produktion, etwa in Schmierstoffen oder Schäumen, befänden. Gleichwohl arbeite VW daran, Ersatzstoffe für tierische Materialien anbieten zu können. So sei der neue ID 4 mit veganen Sitzen erhältlich. Das Lenkrad der Basisversion (aus Polyurethan) könne ebenfalls als vegan bezeichnet werden.
Auch mit Scoby Tec aus Leipzig arbeitet Volkswagen zusammen. Das Zellulose-Leder des Start-ups passt gut in das Vorhaben der Wolfsburger, den Einsatz nachwachsender Rohstoffe in ihren Fahrzeugen zu erhöhen. "Interessant hierbei ist für uns die Aussicht auf ein veganes Material, welches nicht auf Erdöl basiert (wie zum Beispiel Kunstleder) und zusätzlich einen sehr guten CO₂-Footprint vorweisen kann", erklärt Benedikt Griffig. Vor dem Einsatz müsse aber auch ein derart innovatives und umweltfreundliches Material erst alle Anforderungen hinsichtlich Oberflächenbeständigkeit und Haptik erfüllen, bevor es in die Serienproduktion gehe.
Bei Scoby Tec eilt Produktmanager Bernhard Schipper im Moment von Meeting zu Meeting. Es gebe mehr Anfragen, als man bedienen könne, berichtet er. In zwei, drei Jahren möchte das Start-up die ersten Automotive-Kunden in größerem Stil mit nachhaltigen Sitzen und anderen Materialien beliefern.
Auf die Bakterien- und Pilzkulturen im Labor kommt also eine Menge Arbeit zu. Ist das denn zumutbar, sind die winzigen Arbeiter nicht auch Lebewesen? Bernhard Schipper lacht und sagt: "Darüber machen wir hier auch manchmal Witze." Peta hält das Material offenbar für ethisch vertretbar. Für die Entwicklung des Zelluloseleders zeichnete die Tierrechtsorganisation Scoby Tec mit dem "Peta Innovator Award" für vorbildlichen Tierschutz und Nachhaltigkeit aus.