Süddeutsche Zeitung

Ausstellung zur Eisenbahnhistorie:Wartesäle, Gepäckaufgabe, Pornokinos

Eine neue Ausstellung im DB-Museum in Nürnberg zeigt, wie sich das Leben an den Bahnhöfen über die Jahrzehnte verändert hat.

Von Marco Völklein

Wenn Manager der Deutschen Bahn darauf aufmerksam machen wollen, welchen Vorteil für den Kunden das Bahnfahren gegenüber dem Fliegen hat, dann verweisen sie gerne auf das "offene System Eisenbahn": keine Sicherheitskontrollen am Flughafen, keine Gepäckaufgabe, keine langen Wartezeiten am Gate. Einfach einsteigen und losfahren - das zeichne das Reisen im Zug heutzutage gegenüber der aufwendigeren Fliegerei aus.

Doch das war nicht immer so.

Wer bis weit in die Sechzigerjahre hinein eine Fahrt mit der Bahn antreten wollte, der musste sich auf ein ähnlich kompliziertes und aufwendiges Verfahren einstellen wie heutzutage die Flugreisenden am Airport. Der Zugang zu den Bahnsteigen war mit Sperren verwehrt; wer zu einem Zug gelangen wollte, musste dem Personal entweder eine Fahrkarte für den jeweiligen Zug vorlegen - oder zumindest eine Bahnsteigkarte vorweisen, beispielsweise für den Fall, dass er jemanden zum abfahrenden Zug begleiten wollte.

Hinzu kam: Der Kauf der Fahrkarten, das Heraussuchen der richtigen Verbindungen aus den dicken Kursbüchern, auch die Aufgabe des schweren Gepäcks an speziell dafür eingerichteten Schaltern - all das verschlang Zeit. Reisende hatten mindestens eine Stunde oder länger vor der eigentlichen Abfahrt am Bahnhof zu sein, um all die Vorbereitungen abschließen zu können - so war es üblich bis weit in die Sechzigerjahre, sagt Ursula Bartelsheim vom DB Museum in Nürnberg.

Voraussichtlich von Mitte April an eröffnet das Eisenbahnmuseum die neue Dauerausstellung "Bahnhofszeiten". Darin erinnern Kuratorin Bartelsheim und ihr Historikerteam unter anderem an die Bahnsteigsperren, die Gepäckaufgabeschalter und die Zugansager, die - vor der Erfindung des elektrischen Lautsprechers - durch die Bahnhofshallen und Wartesäle liefen und die abfahrenden Züge ausriefen, lediglich ausgestattet mit einer hellen Handglocke und einer durchdringenden Stimme. "Wir möchten zeigen, wer das Leben am Bahnhof geprägt hat und wie es sich über die Jahrzehnte verändert hat", sagt Museumsdirektor Oliver Götze.

So legen die Ausstellungsmacher zum Beispiel Fotoaufnahmen des Leipziger Hauptbahnhofs von früher und heute übereinander. Wo in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts noch der Bereich für die Annahme von schweren Gepäckstücken war, prangt heute das Schild einer Fast-Food-Kette. Früher, berichtet Bartelsheim, mussten schwere Gepäckstücke tatsächlich dort aufgegeben werden, mit einem Aufzug wurden sie ins Untergeschoss transportiert, wo Arbeiter sie auf Rollwagen verluden - zugeordnet zu den jeweiligen Zügen. Kurze Zeit später wurden die Gepäckstücke dann in den jeweiligen Gepäckwaggons verstaut. Ein Service, sagt Museumsdirektor Götze, der sich noch aus der "Postkutschenzeit" hinübergerettet hatte in das Zeitalter der Eisenbahn.

Auch die Fahrplanauskunft lief anders als heutzutage. Bahnbedienstete wälzten an Auskunftsschaltern dicke Kursbücher, suchten den (Fern-)Reisenden die jeweiligen Zugverbindungen heraus. Die standen auf der anderen Seite des Schalters und mussten die Ansagen des Mitarbeiters auf von der Bahn vorgedruckten Notizblöcken notieren. An größeren Bahnhöfen gab es separate Säle, in denen plakat-große Fahrpläne mit den jeweiligen Städteverbindungen aufgehängt waren.

550 Bahnhöfe

sollen bundesweit nach den Plänen der Deutschen Bahn (DB) in Zukunft zum "Bestandsportfolio" des Konzerns gehören. Aktuell verfügt das Unternehmen noch über etwa 800 Empfangsgebäude. 250 davon stehen derzeit zum Verkauf. Laut DB werden die Gebäude in der Regel zunächst den jeweiligen Kommunen zum Kauf angeboten, aber auch gewerbliche Investoren und Privatleute können zum Zug kommen. In den vergangenen Jahren wurden laut DB bereits mehr als 2000 Empfangsgebäude an Kommunen oder private Investoren veräußert, die damit auch die Verantwortung für das Erscheinungsbild übernommen haben. Ein Großteil der Gebäude ist 80 bis 100 Jahre alt und aus Sicht der DB für den heutigen Bahnbetrieb nicht mehr erforderlich.

Und wer sich einen Fahrschein kaufen wollte, musste sich zunächst anhand von Schildern über den Schaltern orientieren, um ja beim richtigen Mitarbeiter anzustehen. Denn es war keinesfalls so wie heute, dass Tickets für sämtliche Verbindungen und alle Klassen an ein und demselben Schalter verkauft wurden. Schließlich gab es noch keinen PC und keinen Drucker; die vorgedruckten Fahrkarten mussten vielmehr an den jeweiligen Schaltern in großen Schränken gelagert werden, Kunden mussten sich entsprechend anstellen.

Der wachsende Wettbewerb mit dem Auto in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zwang die Bahn zu einschneidenden Veränderungen. Das Reisen auf den Gleisen sollte schneller gehen, zugleich wurde Personal gespart. Die Bahnsteigsperren verschwanden, ebenso die Gepäckannahme. 1959 erprobte die Bundesbahn die ersten "Selbstbedienungsgepäckkarren" - Vorläufer der Kofferkulis, mit denen Reisende ihr Gepäck selbst bewegen konnten. Auch viele Wartesäle, bis dahin wegen des langen Vorlaufs vor einer Zugfahrt zwingend notwendig in vielen Bahnhöfen, verschwanden nach und nach.

Damit wurden viele (bislang für den Bahnbetrieb genutzte) Flächen frei - Einzelhandelsgeschäfte zogen ein, ebenso Gaststätten. In vielen wiederaufgebauten Großstadtbahnhöfen ließ die Bundesbahn nach 1945 zudem Kinosäle einrichten. Dort wurden anfangs Wochenschauen und kurze Komödien gezeigt, mit denen sich die Wartenden die Zeit bis zur Abfahrt des Anschlusszuges vertreiben konnten; später zogen Pornokinos ein. Schließlich zogen Bahnhöfe seit jeher zwielichtige Gestalten genauso an wie Menschen, denen der Boden unter den Füßen weggezogen worden war. Auch diesem Thema widmet sich die Ausstellung: Gezeigt wird unter anderem ein unbequemer Schalensitz aus den Nullerjahren, mit dem die Deutsche Bahn verhindern wollte, dass Obdachlose am Bahnhof übernachten.

In kurzen Filmen versetzen Schauspieler die Besucher in die Vergangenheit. So berichtet ein Bankier um 1900 herum, wie er sich nun, im Zeitalter der Eisenbahn, eine Taschenuhr gekauft hat. Denn mit dem neuen Verkehrsmittel sei er öfter auf Reisen - und der Fahrplan der Bahn zwänge ihn, sein Leben dem Takt der Züge anzupassen. Tatsächlich, sagt Museumsdirektor Götze, trug die Bahn entscheidend zu einer Veränderung der Zeitmessung bei. Sie war - neben der Dampfschifffahrt - Anlass für die Einführung der mitteleuropäischen Zeit (MEZ) im Jahr 1893.

In einem anderen Film erzählt ein Dienstmädchen, wie es um 1900 am Schlesischen Bahnhof in Berlin ankam. Der galt laut Bartelsheim damals als "Dienstmädchen-Bahnhof": Mehrere zehntausend junge Frauen, vorwiegend aus Schlesien, kamen dort pro Jahr an, auf der Suche nach Arbeit in der Metropole. Nicht wenige gerieten an unseriöse Vermittler, manche auch an Zuhälter. 1894 wurde die erste kirchliche Bahnhofsmission gegründet. Die kümmerte sich zunächst um junge Frauen, bald um alle Menschen in Not.

Die neue Dauerausstellung "Bahnhofszeiten" sollte eigentlich vom 20. März an im DB Museum in Nürnberg zu sehen sein. Wegen der aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus hat die Museumsleitung jedoch kurzfristig entschieden, das Haus vom 14. März an zu schließen. Daher wird die neue Dauerausstellung voraussichtlich erst vom 21. April an zu sehen sein. Weitere Infos unter www.dbmuseum.de.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2020
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