Verkehrssicherheit:Fortschritt per Vorschrift
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Viele Autofahrer gefährden sich und andere. Damit die Zahl der Unfallopfer endlich sinkt, werden von 2022 an verschiedene Assistenzsysteme zur Pflicht.
Von Joachim Becker
Wahr oder falsch? Mehr als 70 Prozent der Befragten glauben laut einer Euro-NCAP-Umfrage, dass man autonome Autos bereits kaufen kann. Ein anderes Bild zeichnet eine Prognos-Studie, die der ADAC im vergangenen Jahr in Auftrag gab: "Wir gehen davon aus, dass sich automatisierte Fahrfunktionen in der Flotte sehr langsam durchsetzen werden", sagt Andreas Rigling, der beim ADAC für Fahrzeugsicherheit verantwortlich ist: "Für 2050 erwarten wir zwar, dass 70 Prozent der Neufahrzeuge über eine Form von Automatisierung verfügen werden, aber nur wenige Prozent können dann vollautonom von Tür zu Tür fahren." Die meisten Fahrzeuge wären demnach zwar in der Lage, auf Autobahnen selbständig zu steuern. Damit ließen sich aber nur die wenigsten Verkehrstoten verhindern.
Sind autonome Autos also nur ein Hype - oder lösen sie zumindest mittelfristig eines der dringendsten Verkehrsprobleme? Allen Visionen vom unfallfreien Fahren zum Trotz sterben jährlich mehr als 3000 Menschen durch Verkehrsunfälle in Deutschland, in Europa sind es über 25 000. Längst hat die Politik alle Hoffnungen begraben, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 halbieren zu können. Tesla-Gründer Elon Musk will hingegen per Autopilot Tausende Leben retten. Versucht er damit, die Politik unter Druck zu setzen und eine schnelle Zulassung von höher automatisierten Systemen zu erzwingen? "Da wird viel im Marketing überzogen und die Verkehrstoten werden immer wieder als Argument angeführt. Tatsächlich ist das aber eine stark wirtschaftlich getriebene Entwicklung", sagt ein Experte, der ungenannt bleiben will: "Fast jeder Autohersteller steckt momentan so viel Geld in die Entwicklung von autonomen Fahrzeugen, dass sie einen schnellen Erfolg brauchen."
Immer wieder argumentieren Politiker, dass teil- und vollautomatisierte Verkehrssysteme die Sicherheit steigerten. Eine positive Risikobilanz hatte auch die Ethikkommission der Bundesregierung zum verbindlichen Maßstab gemacht: Die Zulassung von automatisierten Fahrzeugen sei nur vertretbar, "wenn sie im Vergleich zu menschlichen Fahrleistungen zumindest eine Verminderung von Schäden verspricht". Autonome Autos werden nicht komplett unfallfrei unterwegs sein, müssen aber deutlich sicherer fahren als der Mensch hinter dem Steuer. Ein Allheilmittel, um die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten oder Schwerverletzten bis zum Jahr 2050 auf nahezu null zu bringen ("Vision Zero"), sind sie aber nicht. Laut der Prognos-Studie können Roboterfahrzeuge bis 2050 in Deutschland lediglich knapp 800 Leben retten.
Eine Ursache ist die langsame Durchdringung der Bestandsflotte mit der neuen Technik: Prognos geht davon aus, dass die Fahrzeuge auf unseren Straßen zur Mitte des Jahrhunderts im Durchschnitt zwölf Jahre alt sein werden - also rund drei Jahre älter als heute. Auf Landstraßen werden allseits einsetzbare Fahrroboter, die automatisch kooperieren und kommunizieren, dann noch die absolute Ausnahme sein. Gerade dort werden aber nicht nur die meisten Kilometer gefahren, auf Landstraßen passieren auch die gefährlichsten Unfälle. Abhilfe können Abstands- und Spurhaltetempomaten (ADAS) schaffen, die (unter Aufsicht) lenken, bremsen und Gas geben: Bis 2050 könnten sie laut Prognos 2,9 Millionen Unfälle auf deutschen Straßen verhindern. Der lang erwartete Durchbruch bei der Fahrsicherheit kommt also doch, wenn auch mit mehr oder minder bekannter und bewährter Technik.
Angesichts eines volkswirtschaftlichen Schadens durch Verkehrsunfälle in Höhe von mehr als 120 Milliarden Euro pro Jahr hat das europäische Parlament kürzlich die Reißleine gezogen: Von 2022 an müssen alle neuen Fahrzeugbaureihen in Europa mit erweiterten Notbremsassistenten ausgestattet sein. Verpflichtend eingeführt werden für Pkw auch Spurhalteassistenten und intelligente Geschwindigkeitsassistenten, die Tempolimits erkennen und automatisch übernehmen. Fahrerüberwachungssysteme, die bei Ablenkung oder Müdigkeit Alarm schlagen, werden genauso zum Standard wie Unfalldatenschreiber. Durch die Ausrüstung von Lkws und Bussen mit Totwinkelwarnern sollen die Unfallzahlen vor allem im Stadtverkehr gesenkt werden. Auch Rückfahrkameras können vor allem Fußgänger und Radfahrer vor dem motorisierten Verkehr schützen.
Die Schutzengel für jedermann müssen von 2022 an mehr können als die Assistenzsysteme heute
Drei Viertel der Fahrer können selbst bei vermeintlich harmlosen Nebentätigkeiten, wie eine Brille aus dem Etui zu nehmen oder aus einer Wasserflasche zu trinken, vor einem plötzlich auftretenden Hindernis nicht mehr zu bremsen. Das haben ADAC-Tests ergeben: Wer bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h nur zwei Sekunden lang unachtsam ist, legt fast 28 Meter im Blindflug zurück. Das Steuer in der einen und das Handy in der anderen Hand ist bekanntermaßen lebensgefährlich. Bei Landstraßentempo können Spurhalteassistenten deshalb zum Lebensretter werden - vor allem, wenn sie zur Serienausstattung jedes Autos gehören. "Der Sicherheitsnutzen, den wir uns von einer vollständigen Automatisierung erwarten, ist bei Weitem nicht so groß wie der, der durch vorgeschriebene Assistenzsysteme kommt", betont Andreas Rigling. Aufpreispflichtige Extras wie Auto(bahn)-Piloten seien lediglich Komfortfunktionen. Viel wichtiger seien Assistenten, die auf jedem gefahrenen Kilometer einsatzbereit seien.
Welche Systeme die Zahl der Unfallopfer am ehesten mindern können, haben Ingenieure, Behördenvertreter und Politiker auf der ESV-Konferenz in der vergangenen Woche diskutiert. Unter dem Motto "Technologie, die ein sichereres Morgen ermöglicht" untersuchten mehrere Hundert Experten zahlreiche technische Details rund um die aktive und passive Sicherheit. Mercedes hat beim weltgrößten Treffen für Automobilsicherheit in Eindhoven in den Niederlanden sein neues, autonomes Experimental-Sicherheitsfahrzeug ESF 2019 vorgestellt. Mit einem guten Dutzend von Innovationen werden neuartige Schutz- und Kooperationsmöglichkeiten erprobt. Die Airbags können den Fahrer beispielsweise auch dann schützen, wenn er die Hände nicht am Lenkrad hat und seine Sitzposition im autonomen Fahrmodus verändert. Dank verschiedener Displays und Leuchten auf dem Dach kann das Fahrzeug zudem Warnhinweise absetzen, bevor es zu einem Unfall kommt. Über diese Kommunikationsfähigkeit verfügen heutige Assistenzsysteme nicht. Meist werden sie als separate Sonderausstattungen auf ein Standard-Bordnetz aufgepfropft, entsprechend schlecht sind sie vernetzt. Statt eine virtuelle Knautschzone ringsum zu bilden, laufen viele Informationen, die im Auto gesammelt werden, derzeit ins Leere.
Die Sicherheitssysteme, die Europa demnächst vorschreibt, sind heute noch in starren Systemgrenzen gefangen. Ihnen fehlt nicht nur ein Kurzzeitgedächtnis, sondern schlicht die Rechenpower bei der Bilderkennung, um das Umfeld gesamthaft zu erfassen: Derzeit verfügbare Abbiegeassistenten für Lastwagen haben beispielsweise Probleme, teilverdeckte Radfahrer hinter parkenden Autos oder anderen Hindernissen auszumachen. Gerade solche Standard-Assistenten werden in den nächsten Jahren von verbesserten Sensoren und leistungsstarken Computerchips profitieren. Luft nach oben haben auch Notbremsassistenten, deren Tagesform von Temperatur, Regen oder Dunkelheit abhängt. Obwohl das Auto die Außentemperatur oder eine feuchte Straße (automatischer Scheibenwischer im Einsatz) erkennt, werden die Regelalgorithmen für den Notbremsweg nicht an die veränderten Außenbedingungen angepasst. Das haben umfangreiche ADAC-Erprobungen gezeigt.
Auch beim Test von Fahrzeugen mit intelligenten Geschwindigkeitsassistenten hatten die Systeme Schwierigkeiten, alle Verkehrszeichen richtig zu erkennen und zuzuordnen. "Die Systeme sind zwar gut, aber noch nicht gut genug", so das Fazit des Automobilclubs: "Gerade in Bezug auf die verpflichtende Einführung einer Zwangsbremse wäre die relativ hohe Fehlerquote inakzeptabel." Die Frage ist also nicht nur, wie viele Sicherheitshelfer der Gesetzgeber im Auto vorschreibt, sondern auch, in welcher Qualität sie obligatorisch werden. Schönwettersysteme bieten den versprochenen Sicherheitsgewinn nur unter eng begrenzten Rahmenbedingungen.
"Für die Fahrzeugsicherheit stimmt der Satz, dass sich die Autoindustrie in den nächsten fünf bis zehn Jahren mehr ändern wird als in den vergangenen 50 Jahren", schreibt Euro NCAP in seiner Planung bis 2025. Längst werden auch aktive Systeme bewertet, die Unfallfolgen nicht nur mindern, sondern Crashs vermeiden können. Abstandstempomaten (ADAS) werden in der Benotung der Fahrzeugsicherheit künftig stärker einbezogen. Dazu kommen vom nächsten Jahr an Bonuspunkte für die Fahrerüberwachung. Erst wenn Autokäufer durch solche Vergleichstests sensibilisiert werden, sind sie womöglich bereit, für hochwertige Sicherheitssysteme etwas mehr zu bezahlen. Das eingangs erwähnte Problem bleibt aber gerade bei Premium-Fahrzeugen bestehen: Je mehr die Assistenten können, desto genauer muss die Rollenverteilung zwischen Mensch und Maschine geklärt sein. Wer glaubt, während der Fahrt entspannt Kurznachrichten lesen oder per Fingertipp schreiben zu können, wird auch im neuesten Auto zur Gefahr für seine Mitmenschen.