Alternative Mobilitätsformen:Autoverzicht? Funktioniert sogar für Familien

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Man muss seinen Alltag nur etwas mehr im Voraus planen. Fixkostendämpfend ist es obendrein. Und wenn sie mal Auto fahren, finden die Kinder es umso spannender.

Von Michael Kläsgen

Klar, es gibt sie immer mal wieder. Situationen wie diese, in denen die Augenbrauen des Gesprächspartners kurz in die Höhe gehen und ein ungläubiges "Wie, kein Auto?" zur näheren Erläuterung der persönlichen Lebensumstände einlädt. In einem besonderen Fall war die Irritation für einen Augenblick aber beiderseitig. Das Gegenüber fügte spontan hinzu: "Das ist ja der wahre Luxus!"

War das jetzt Veräppelung? Der Exotenstatus war mir bewusst, seitdem ich mit der Familie aus der Innenstadt von Paris, wo ein Auto nur lästig ist, nach München zog. Anfangs war es nur ein Test: Geht das auch hier? Ja, das tut es, aber exotisch ist es schon. Deswegen die Reaktionen. Und jetzt? Markierte die Bemerkung den Übergang vom Exoten zum Objekt von Hohn und Spott?

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Luxus? Den findet man eigentlich eher in der eigenen Tiefgarage. SUV und Sportwagen stehen da poliert in Reih und Glied. Der Wert der Gefährte dürfte sich leicht auf eine schlappe Million Euro bemessen. Einen Stellplatz ziert ein in weißes Leinen gehüllter Oldtimer. Zumindest beim Anblick dieses Mobils könnte auch der überzeugteste Nicht-Autofahrer schwach werden. Ist das nicht der "wahre Luxus"? Sich so etwas leisten zu können?

Aber nein, der Bekannte meinte es ernst und berichtete vom täglichen Überlebenskampf auf der Autobahn in Richtung Arbeitsplatz. Es muss die Hölle sein, ein erbarmungsloses Gedrängel um den vorderen Rang. Keine Ahnung, ob das wirklich so schlimm ist. Rasend erlebt man die Autofahrer, mit dem Rad auf dem Weg zum Büro, eher selten. Im Gegenteil: Es kommt immer mal wieder vor, dass die im Stau stehenden Vehikel schnell hinter einem zurückbleiben. Was wiederum das Gefühl vermittelt, schneller zu sein als sie, was natürlich Unsinn ist.

Der ÖPNV erfordert eine noch größere Nervenstärke als Radfahren

Aber die widrigen Begleiterscheinungen des Radfahrens lassen sich so für ein paar Augenblicke besser ertragen, etwa der eisige Ostwind oder der niederprasselnde Regen. Besonders wetterempfindlich sollte man als Autoloser nicht sein. Eine gewisse Risikofreude hingegen ist hilfreich. Sie führt zum Beispiel zu der Erkenntnis, dass selbst vorsichtiges Radfahren auf Schnee möglich ist.

Als Alternative bleibt natürlich immer noch der ÖPNV. Ihn zu nutzen, führt wiederum zu der Erkenntnis, dass es hilft, eine noch größere Nervenstärke mitzubringen als beim Schnee-Radfahren. Wenn alles gut klappt, geht es zügig voran. Nur klappt es, gemessen an den hohen Ansprüchen einer Stadt wie München, ziemlich oft nicht so gut. Falls die Stadt je darüber nachdenken sollte, Eingewöhnungskurse für Zugezogene geben zu wollen, sollte sie viele Doppelstunden auf den Begriff "Stammstrecke" nebst posttraumatischer Nachbehandlungsoption darauf verwenden.

Andererseits: Man gewöhnt sich irgendwann auch daran, für vier S-Bahnstationen mit einmal Umsteigen in der Innenstadt 25 Minuten zu brauchen, auch wenn die App des Verkehrsbetriebs beharrlich etwas anderes behauptet. Und damit wäre leider nicht die gesamte Wegstrecke im öffentlichen Nahverkehr beschrieben, sondern nur das Teilstück von Schule und Kindergarten bis zur Arbeit.

Der gesamte Weg von der Haustür bis zum Büro über den Umweg Schule und Kindergarten summiert sich inklusive Wartezeiten und Verabschiedung leicht auf knapp anderthalb Stunden. Mit dem Auto wäre es aber auch nicht viel schneller. Ginge auch gar nicht. Vor Kindergärten und Schulen gibt es keine Parkmöglichkeiten. Und überhaupt, selbst schuld: Warum gehen die Kinder auch nicht auf die nächstgelegene Sprengelschule?

Weil die Betreuungszeiten für Mütter, die gern halbwegs normal arbeiten wollen, ein Witz sind und im nächsten Jahr sowieso alles besser wird. Dann können die Kinder den Schulbus nehmen.

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Es ist also nicht alles rosig im Leben eines Autolosen, aber mit Auto wäre es auch nicht besser, sonst hätte er ja eins. Im Internet lassen sich inzwischen auch maßgeschneiderte Wandschränke bestellen, Fahrten zu Möbel- und Einrichtungshäusern erübrigen sich im Prinzip. Und zur Not lässt sich ein Auto immer noch mieten.

Die Kinder finden Fahren so spannend, dass sie im Auto nie einschlafen

Es geht aber auch ohne, der Alltag muss nur ein wenig mehr im Voraus geplant werden. Dann entsteht auch nicht das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen. Irgendwann wird ohnehin alles zur Gewohnheit, auch für die Kinder. Mit einer Ausnahme: dem Autofahren. Das tun sie natürlich regelmäßig im Urlaub - im Mietwagen, den man nicht nur am Ferienort, sondern auch für die Fahrt dorthin bereits in der Heimatstadt ordert.

Das Autofahren finden sie dann so spannend, dass sie auch dann nicht einschlafen, wenn es längst Nacht ist und die Fahrt sich hinzieht. Von Autobesitzer-Eltern hört man in der Regel das genaue Gegenteil. Einsteigen, losfahren, einschlafen. Wenn es aber nur selten vorkommt, ist Autofahren aber offenbar ein großes Abenteuer mitsamt Autounterricht. Verwunderlich, wie gut Kinder Mietwagen von Mietwagen unterscheiden können. Mitunter sogar etwas unheimlich: Sollte es am Ende so sein, dass der autolose Vater begeisterte Autofahrer und -fahrerinnen heranzieht?

Fixkostendämpfend ist der Autoverzicht obendrein

Wäre auch egal. Nur weil man kein Auto hat, bedeutet das nicht, missionarisch unterwegs zu sein. Es gibt schlicht Lebenssituationen, in denen ein Auto verzichtbar ist. Die kann man auch bewusst schaffen, fixkostendämpfend ist es obendrein. Jeder muss das für sich entscheiden. Wer jedes Wochenende oder abends im Sommer raus in die Natur will oder wer regelmäßig außer Haus einen Angehörigen pflegen muss, benötigt wohl ein Auto. Man kommt aber auch ohne aus, und zwar nicht nur als Student oder Rentner, sondern auch als Familie. Erstaunlich, in welch schöne Gegenden man mit der Regionalbahn kommt.

Wer so wohnt, dass er es nicht weit hat zur U-Bahn, zur S-Bahn, zur Arbeit, zum Arzt, zum Einkaufen, zum Sport, ins Kino oder Theater, für den ist es natürlich von Haus aus erheblich einfacher. Falls sich all diese Erledigungen auf kurzem Weg abhaken lassen, wird ein Auto schnell überflüssig. Wer vorausplant, kann sogar weitgehend ohne Carsharing auskommen. Irgendwie schaffen es die Kinder auch am Wochenende ohne Auto zu der abgelegenen Kindergeburtstagsfeier. Wobei das schon die Momente sind, an denen Selbstzweifel am autolosen Dasein aufkommen.

Am bislang heftigsten nagten diese, als die Autovermietung am Tag des Starts in die Sommerferien den gemieteten Wagen einfach nicht herausrückte. Überbucht! Ja, das gibt es inzwischen auch bei Autovermietern. Die Familie saß derweil zu Hause auf gepackten Koffern und wartete. Die Lösung: bei einem anderen Vermieter einen neuen Wagen mieten. Was für ein Stress! Aber das ist wohl der Preis, den Exoten zahlen müssen.

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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