Die Drehbücher, die Sergio Marchionne für die Zukunft von Fiat Chrysler (FCA) verfasst hatte, enthalten genug Stoff für mehrere Netflix-Serien. Der Visionär und Jongleur war beseelt von unerschütterlichem Optimismus - wer Chrysler retten kann, für den ist der Wiederaufbau der Fiat-Autosparte doch nur eine Fingerübung. Das dafür nötige Geld wollte der Italo-Kanadier mit den Edelmarken verdienen, von denen nach der Ausgliederung von Ferrari nur Alfa-Romeo und Maserati übrig blieben. Die Offensive startete 2011 mit einem Absatzziel von 400 000 Einheiten. Obwohl die Verkäufe stattdessen auf einen absoluten Tiefstand von 65 000 Einheiten fielen, hielt Marchionne an seiner Vision fest, legte ein Fünf-Milliarden-Investitionsprogramm auf und verschob die Zielmarke von 2015 zunächst auf 2018 und dann auf 2022. Genützt hat das nicht viel: 2019 wurden weltweit etwa 95 000 Alfas neu zugelassen, Tendenz fallend.
Nach Marchionnes Tod, aber noch vor dem Zusammenschluss zwischen Fiat Chrysler und der französischen Peugeot-Gruppe (PSA), entschloss sich der neue FCA-Chef Mike Manley zu einer Radikalkur. Im ersten Schritt wurde der Alfa-Chef Tim Kuniskis angewiesen, das Portfolio auf nur mehr vier Modelle zusammenzustreichen. Sein Gegenpart bei Maserati, der Deutsche Harald Wester, musste sich wenig später den geplanten Elektrosportwagen ebenso abschminken wie den großen SUV und eine der zwei Limousinen. Vorsprung durch ein mutiges Produktprogramm und zeitgemäße technische Inhalte sieht anders aus. Vor allem Alfa muss kräftig Federn lassen. Das geplante Frontmotor-GTV Coupé ist ebenso vom Tisch wie der weit gediehene Nachfolger der 8 C-Fahrmaschine, die für China geplanten Langversionen von Giulia und Stelvio wurden ersatzlos gestrichen, der größere SUV auf Levante-Basis fiel ebenso dem Rotstift zum Opfer wie die Kombiversion der Giulia, die nächste Giulietta-Generation und das Comeback des Spider.
Autoindustrie:Immer lächeln, immer Druck aufbauen
Carlos Tavares wird Chef eines neuen Weltkonzerns, der aus der Fusion von Peugeot und Fiat-Chrysler hervorgeht. Er hat schon Opel wieder flott gemacht mit seinen Management-Methoden, die so effizient wie radikal sind.
Dieser Kurswechsel gefährdet die Marke, die sich in Zukunft nur noch bedingt mit Audi, BMW und Mercedes messen kann. Der Grund: Alfa muss Stückzahlen machen, darf sich nicht mehr verzetteln, hat im FCA-PSA-Verbund zusätzliche Synergien zu heben, steckt in der Kostenklemme und wird frühestens 2021 wieder Land sehen, wenn der Tonale auf den Markt kommt. Von dem schmucken Crossover auf einer nicht mehr ganz taufrischen Fiat-Basis will man jährlich etwa 65 000 Stück absetzen. Der Tonale soll zwischen X 1 und X 3 oder Q 2 und Q 3 einparken, ist optional mit Allradantrieb zu haben. Statt die SUV-Familie wie ursprünglich angedacht nach oben zu erweitern, wo Maserati mit der schwindenden Nachfrage kämpft und nichts weniger braucht als hausinterne Konkurrenz, weicht Alfa folgerichtig nach unten aus, wo das Volumen lockt, die Rendite aber schmaler ausfällt.
Alfa bietet tolles Design, aber die Qualität ist durchwachsen. Das kostet Kunden
Die Stunde der Wahrheit schlägt spätestens 2022 mit dem Debüt des sogenannten B-SUV, der genau dort reüssieren soll, wo der MiTo kein Rad auf den Boden bekam. Wobei noch unklar ist, ob der Tonalino (Spitzname) überhaupt eine FCA-Bodengruppe untergeschoben bekommt. Alternativ ist nämlich die CMP-Matrix verfügbar, die PSA unter anderem beim Peugeot 2008 einsetzt und für die nach dem Muster des 208 sogar ein passendes e-Modul parat steht. Die Controller würden vermutlich am liebsten auch Giulia und Stelvio auf PSA-Architekturen umstellen. Der entsprechende Teilesatz heißt EMP 2, eignet sich für den möglichen Nachfolger von Insignia und 508, treibt DS 7 und 5008 an und passt perfekt zum Alfa-Duo.
Die von Fiat favorisierte Jeep-Connection bliebe in diesem Fall außen vor. Alfa leidet unter der durchwachsenen Fertigungsqualität, dem holprigen Infotainment und der mäßigen Zuverlässigkeit, aber dafür punktet die Marke mit tollem Design, unterhaltsamen Fahreigenschaften und durchzugsstarken Motoren. Während sich das Design am ehesten in eine bessere Zukunft transferieren lässt, bringt die Fusion mit PSA ein Bündel von rigiden Vorgaben und banalen, markenübergreifenden Komponenten mit sich, die nicht so recht zum Selbstverständnis der Italiener passen wollen. So gesehen hinterlässt die neue, primär kostengetriebene Kooperationsstrategie einen zwiespältigen Eindruck. Noch ist nichts entschieden, und die Vergangenheit hat gezeigt, dass italienische Projektlisten oft das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Doch dass die Marke ums nackte Überleben kämpft, signalisieren neben dem zusammengestrichenen Entwicklungsbudget auch das nur noch punktuelle Sponsoring und der drastisch reduzierte Vertriebsaufwand.
Die neue FCA-Führung bekräftigt die strikte Trennung von Alfa und Maserati. Die einzige Dublette ist der noch namenlose Maserati D-SUV, der ab 2021 als Schwestermodell des Stelvio Furore machen soll. Für die Marke mit dem Dreizack im Kühlergrill war 2019 ein schlimmes Jahr. Die Verkäufe fielen unter das Niveau von 2014 auf etwa 24 000 Autos - verteilt auf fünf Modelle und zwei Architekturen. Ob und wann das wiederholt revidierte Absatzziel von 70 000 Einheiten erreicht wird, steht in den Sternen über Modena. Ende Mai will die Maserati-Führung ihre künftige Strategie bekannt geben und ein neues Topmodell mit dem Decknamen Supersportiva vorstellen. Der ursprünglich für 2021 avisierte vollelektrische Alfieri muss demzufolge einem Mittelmotor-Zweisitzer Platz machen, der als Coupé noch in diesem Jahr auf den Markt kommen soll. Ein davon abgeleiteter Spyder und die dritte Auflage des Gran Turismo folgen 2021. Wie will man binnen weniger Monate ein neues Auto samt neuem Motor schaffen? Die Vorlage dazu ist der geplante Nachfolger des 8 C, den Alfa nicht bauen darf.
Schon der geleakte Prototyp basiert auf einem Alfa 4 C, dessen Fertigungsstraße im Maserati-Stammwerk zur neuen Heimat des Supersportiva umfunktioniert wird. Der Maserati ist deutlich breiter und länger, denn er beherbergt statt dem quer eingebauten Vierzylinder einen längs installierten V 6 samt Hybrid-Paket. Die Achsen und die federleichte Karbon-Karosse müssen entsprechend angepasst werden. Der Sechszylinder ist höchstwahrscheinlich ein Eigengewächs, denn das bislang von Ferrari zugelieferte 2,9-Liter-Aggregat gilt ebenso als tabu wie eine ungewöhnlich flache Neukonstruktion aus Maranello, die 2021 im Dino debütieren dürfte. Voll elektrifizierte Varianten sind für alle künftigen Maserati-Produkte angeblich nur eine Frage der Zeit. Mithilfe skalierbarer Batterien und E-Motoren soll das Topmodell mehr als 700 PS an die Hinterräder wuchten - fragt sich nur, wofür. Denn sobald in ein paar Jahren jedes zweite E-Mobil in fünf Sekunden von null auf hundert km /h beschleunigen kann und ein Tempolimit die Höchstgeschwindigkeit uninteressant macht, haben Fahrleistungen als Wettbewerbsvorteil ausgedient.
Für 2021 hat sich Maserati das Debüt eines kleinen SUV auf die Fahnen geschrieben, der freilich nicht dramatisch kleiner ausfallen dürfte als der Levante, der seinerseits 2023 einem größeren, geräumigeren und luxuriöseren Hochsitzer weichen soll. Während es durchaus sinnvoll ist, das Crossover-Segment doppelt zu besetzen, erscheint die Nachfolgelösung für Gran Turismo und Gran Cabrio (2022) ein gewagtes Unterfangen. Beide Modelle haben sich seit 2008 in Summe nur 40 000-mal verkauft, allein der Mehraufwand für die Elektrifizierung dürfte jedes Budget sprengen, und große Coupés und Cabrios sind wenig gefragt - deshalb stellt Mercedes die zweitürigen S-Klasse-Varianten ein. Das in das GT-Duo investierte Geld wäre vermutlich im gemeinsamen Nachfolger von Ghibli und Quattroporte besser aufgehoben. Obwohl der majestätische Viertürer 2019 weltweit nur 2460 Kunden überzeugen konnte, will Maserati sein Flaggschiff 2022 neu erfinden. Das kann sich eigentlich nur im engen Schulterschluss mit dem Ghibli rechnen, der auf der aktuellen Projektliste allerdings nicht auftaucht.