Alarmierende Qualitätsbilanz:Autos als Mangel-Ware

Alarmierende Qualitätsbilanz: 2014 gab es so viele Auto-Rückrufe wie noch nie. Liegt es an mangelnder Sorgfalt bei der Produktion?

2014 gab es so viele Auto-Rückrufe wie noch nie. Liegt es an mangelnder Sorgfalt bei der Produktion?

(Foto: Sergei Chirikov/dpa)
  • Laut einer Studie wurden 2014 in den USA 62,7 Millionen Personenwagen und Light Trucks zurückgerufen - ein neuer Rekord.
  • Auch in anderen Ländern wie Japan und Kanada gab es neue Rückruf-Höchstwerte. In Deutschland hat sich die Rückruf-Quote seit 1998 mehr als verdreifacht.
  • Die Mängel-Spitzenreiter sind General Motors, Honda und Chrysler. Gründe sind der immer höhere Kostendruck für Zulieferer und immer kürzere Modellzyklen.
  • Laut dem TÜV-Report steigt die Qualität der Autos jedoch. Die Zahl der Fahrzeuge, die mit erheblichen Mängeln durch die Hauptuntersuchung fallen, fällt kontinuierlich.

Von Steve Przybilla

Der erste Schock traf Peter Henning (Name geändert), als bei seinem nagelneuen BMW X6, Kostenpunkt 90 000 Euro, Rost aus den Bremsscheiben quoll. Fast drei Jahre sind seither vergangen. Henning fährt seinen X6 noch immer, wenngleich widerwillig. "Die meisten Leute wollen gar nicht mehr bei mir mitfahren", sagt der 66-Jährige, bevor er aufzählt, was sonst noch alles im Argen liegt: Mal falle das ABS aus, ein anderes Mal das Navi. Bei Fahrten auf über 1000 Meter Höhe schalte der Motor in den Notlauf: "Wenn ich in diesem Moment auf der Landstraße überholen will, wird's richtig gefährlich." Dazu kämen Risse in den Ledersitzen, eine schlecht beheizte Heckscheibe und Probleme mit dem Bordcomputer. "Das soll Premiumqualität sein?", fragt Henning und schaut abschätzig auf sein einstiges Traumauto.

Der BMW X6 trägt zwar das weißblaue Markenzeichen, aber er wird wie die meisten BMW X-Modelle im US-Werk Spartanburg gebaut. Im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" scheinen die Qualitätsstandards niedriger zu sein als in den deutschen Stammwerken. Das legen die katastrophalen Rückrufquoten der vergangenen Jahre nahe. Nach Berechnungen des Center of Automotive Management (CAM) wurden allein 2014 in den USA über 62,7 Millionen Pkw und Light Trucks zurückgerufen. Damit sind in diesen Segmenten fast vier Mal mehr Fahrzeuge von Rückrufen betroffen als im gleichen Zeitraum im US-Markt verkauft wurden.

Erschütternde Bilanz

Die Rückrufquote kann über 100 Prozent liegen, weil auch ältere Modelle in die Werkstätten beordert werden. Mängel-Spitzenreiter ist General Motors (GM) vor Honda und Chrysler. GM kommt nicht nur auf eine dramatische Rückrufquote von 912 Prozent. Viel schlimmer noch: Wegen fehlerhafter Zündschlösser und defekter Airbags kamen bislang 45 Menschen zu Tode, mehr als 50 wurden verletzt. Es dürften weitere hinzukommen, viele Fälle werden noch geprüft. Auch deutsche Hersteller sind von gravierenden Qualitätsmängeln betroffen, BMW liegt in den USA wie im Vorjahr bei einer Rückrufquote von 227 Prozent.

Auch wenn man den Herstellern zugute hält, dass sie viele Altlasten beseitigt haben, bleibt die Bilanz erschütternd: In den vergangenen fünf Jahren wurden in den USA über 130 Millionen Fahrzeuge wegen sicherheitsrelevanter Mängel zurückgerufen. Das entspricht einer durchschnittlichen Rückrufquote von 156 Prozent. Auch in weiteren Ländern wie Japan und Kanada erreichten 2014 die Rückrufe traurige Rekordwerte.

Achtung Ansteckungsgefahr: Verschweigt ein Lieferant Mängel, kränkeln viele Automodelle

Ein Synonym für die Malaise ist der japanische Airbag-Hersteller Takata. Beim Aufblasen der Luftsäcke waren Metall- und Plastikteile ins Gesicht von mehreren Fahrern geflogen - aus Lebensrettern waren tödliche Geschosse geworden. Schätzungen zufolge sind rund 20 Millionen Autos betroffen.

Aber auch an anderer Stelle häufen sich die Pannen: Ob klemmende Gaspedale, kaputte Bremsen oder fehlerhafte Zündschlösser - die Meldungen reißen nicht ab. Die Frage liegt also nahe: Wird an der Sorgfalt gespart, je schneller und kostengünstiger neue Modelle auf den Markt kommen müssen? Fakt ist, dass viele Hersteller ihre Modellpaletten immer rascher erneuern und er weitern. Jede noch so kleine Marktnische soll neues Wachstum bringen.

Preiskampf statt Sorgfalt und Qualitätskontrolle

Auf dem deutschen Mark wacht das Kraftfahrt-Bundesamt über Rückrufaktionen. Sobald Hersteller einen Fehler entdecken, der die Sicherheit gefährdet, müssen sie sich bei der Behörde melden. Diese gibt dann die Daten der Fahrzeughalter heraus, damit die Betroffenen angeschrieben werden können. Während es 1998 noch 55 solcher Rückrufe gab, ist die Zahl 2013 auf 180 angestiegen. Wobei die Frage offen bleibt, ob Hersteller ihrer Pflicht tatsächlich immer im geforderten Maß nachkommen. So soll das Airbag-Problem bei Takata schon seit Jahren bekannt sein. Reagiert haben Zulieferer und Hersteller aber erst, nachdem es Tote gab.

Anders verhält es sich bei freiwilligen Rückrufen. In diesen Fällen ist zwar die Sicherheit nicht gefährdet, wohl aber das Vertrauen der Fahrer: Wenn bei einem Neuwagen der Premiumklasse schon nach ein paar tausend Kilometern das Navi ausfällt, ist der Ärger vorprogrammiert. Geringfügige Probleme werden von vielen Fahrern dagegen meist gar nicht erst bemerkt - und von den Werkstätten im Rahmen der jährlichen Inspektion klammheimlich behoben. Kritiker werfen der Industrie deshalb vor, dass Kunden zunehmend zum Versuchskaninchen mutieren. Wo Sorgfalt und Qualitätskontrolle stehen müssten, regiert der Preiskampf. Der Dumme ist am Ende der Kunde.

Enge Verflechtungen in der Branche

Stefan Bratzel, Institutsleiter des CAM in Bergisch Gladbach, vergleicht den europäischen Markt mit dem amerikanischen. Sein Fazit: "Noch kommen die deutschen Hersteller hier ganz gut zurecht. Aber die nächste große Rückrufaktion kann schon morgen kommen." Verantwortlich dafür sind die engen Verflechtungen in der Branche. So greifen fast alle Konzerne auf dieselben Zulieferer zurück. Wenn ein fehlerhaftes Teil in einem Toyota steckt, kann es (wie beim Takata-Airbag) genauso gut in einem Honda, BMW oder Chrysler verbaut sein.

Wo die Kunden nicht hinschauen, stecken also auch in sogenannten Premiumfahrzeugen Massenprodukte. Und: Die Entwicklungszyklen werden immer kürzer. "Schauen wir uns nur mal den Golf an", so Bratzel. "Die erste Generation wurde neun Jahre lang gebaut. Zuletzt vergingen gerade mal vier Jahre, bis ein neues Modell auf den Markt kam."

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Wird deshalb auch gleich gepfuscht? Nicht alle ziehen diesen Schluss. Jürgen Wolz, technischer Leiter beim TÜV Süd, behauptet sogar das Gegenteil: "Gerade die neuen Autos weisen eine nie gekannte Qualität auf", sagt Wolz. Er stützt sich dabei auf den jährlich erscheinenden TÜV-Report, in den rund 8,5 Millionen Hauptuntersuchungen einfließen. Seit langer Zeit ist die Zahl der Autos mit erheblichen Mängeln rückläufig.

Interessant ist auch das andere Ende der Statistik: Jahrelang dominierten japanische Modelle die "Top 10" der zwei bis drei Jahre alten Modelle. Beim jüngsten TÜV-Report hingegen teilen sich deutsche Autos die Spitzenplätze. Warum die Japaner derart abfielen, ist unklar. Womöglich spielen Produktionsprobleme nach dem Fukushima-Unglück eine Rolle.

Die Hersteller wappnen sich gegen Rückrufe

Doch so gut die aktuellen TÜV-Bewertungen für deutsche Autos auch sind, so unsicher ist die Zukunft. Der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer (Universität Duisburg-Essen) ist davon überzeugt, dass Rückrufe weiter zunehmen werden. "In den vergangenen 50 Jahren ging es vor allem um mechanische Probleme", so Dudenhöffer. Je mehr Funktionen ein Auto biete, desto störanfälliger werde es aber. "Wir bewegen uns auf das Zeitalter der Elektronikrückrufe zu. Wenn sich die Hersteller dagegen nicht besser absichern, kann das zum Ruin führen."

Schon heute legten die Produzenten zwischen 300 und 500 Euro pro verkauftem Auto zurück, um für etwaige Rückrufe gewappnet zu sein. "Diesen Wert wird man in Zukunft sicherlich erhöhen müssen", sagt Dudenhöffer. Nur wenn die Verbraucher besser geschützt würden, könne verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden. Die USA stünden bei der Produkthaftung übrigens viel besser da als Europa: "Da werden Vorstandsvorsitzende auch mal vor den Senat gezerrt. Und die Haftungssummen sind wesentlich höher."

Bleibt die Frage nach der Qualität. Auffällig ist, dass es - außer der TÜV-Statistik und den Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes - erstaunlich wenig belastbare Zahlen gibt. Was wohl auch daran liegt, dass Qualität ein relativ subjektiver Begriff ist. Die Verbraucherzentrale etwa sammelt keine Informationen zu Autoreklamationen und freiwilligen Rückrufen, ebenso wenig der Verband der Automobilindustrie (VDA). "Natürlich beschweren sich hin und wieder Mitglieder", sagt Herbert Engelmohr, Jurist beim Automobilclub AvD. "Aber das sind Einzelfälle, die wir thematisch nicht ablegen." Ein Urteil wolle man sich daher nicht anmaßen - allein schon, weil sich zufriedene Kunden generell nicht meldeten.

Wenig los bei den Schiedsstellen

Weitaus häufiger klingelt bei den Schiedsstellen des Kfz-Gewerbes das Telefon. Die sind als Schlichter unter anderem für das Gebrauchtwarengeschäft tätig. Und auch in diesem Segment geht die Zahl der Beschwerden zurück: von 3091 im Jahre 2003 auf zuletzt 1755 im Jahre 2013. Die Reklamationsquote im Werkstatt- und Gebrauchtwagengeschäft beläuft sich auf insgesamt 0,01 Prozent - "verschwindend gering", wie eine Sprecherin der Schiedsstelle betont.

So zufrieden die meisten Kunden mit ihrem Auto auch sein mögen: Hinter den Zahlen der Statistiken verstecken sich reale Schicksale. Gesteht ein Hersteller einen Fehler nicht frühzeitig von sich aus ein, bleiben gefährliche Mängel oft jahrelang unentdeckt. Die Opfer der Takata-Airbags sind ein mahnendes Beispiel.

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