Es geht um Sekundenbruchteile. Millisekunden, die entscheiden können, ob man mit dem Leben davonkommt. Ein Augenblick, der zu kurz ist, um dem Menschen die Chance zu geben, sich selbst zu schützen. Aber lang genug, damit der Algorithmus von Lino Dainese in Aktion tritt. "Ich komme jeden Morgen hier rein, um Leben zu retten", sagt der Italiener in seinem durchgestylten Büro im Industriegebiet von Vicenza. Seit 41 Jahren fertigt Dainese Motorradbekleidung. Die Farben, die Nähte, die Schnitte, das alles sei für ihn heute sekundär, sagt der Firmengründer aus Venetien. Dainese jagte zehn Jahre einer mathematischen Formel hinterher. Sie ermöglicht es ihm heute, Hobby-Biker mit einem Airbag zum Anziehen auszustatten.
"Wir haben den Algorithmus einer modernen Rüstung entwickelt", sagt Dainese über den Luftpanzer. Die jüngste Antwort auf die Herausforderung, den menschlichen Körper zu schützen, ist bahnbrechend. D-Air Street heißt die Weste aus Vicenza. Vier Patente und fünf Millionen Euro Entwicklungskosten stecken in ihr. Dainese nennt sie "intelligent". Die Kaltgasgeneratoren, die Luft in die beiden Hochdruck-Airbags pumpen, werden von dem Gehirn der Weste aktiviert: dem Algorithmus. Er analysiert die Sensordaten und erkennt Unfallsituationen. Von der Interpretation bis zum kompletten Aufblasen der Luftsäcke vergehen 45 Millisekunden.
Lino Dainese, selbst BMW-Fahrer, klickt auf die Maustaste seines Computers. Der Bildschirmhintergrund zeigt eine Felsküste in der Irischen See: die Isle of Man, Austragungsort des ältesten und gefährlichsten Motorradrennens der Welt. 21 Todesopfer gab es beim Tourist Trophy allein seit dem Jahr 2000. Dainese zeigt das Video eines Crashtests. In der Zeitlupe sieht man, wie die Airbags vor der Kollision den Brustkorb mit seinen lebenswichtigen Organen schützend umhüllen. Noch bevor das Gesicht des Fahrers den Schreck verrät. "Der Mensch merkt erst später, was passiert", sagt Dainese. Sein Airbag ist schneller als die Angst.
Die Angst vor dem Angestelltendasein
Der Angst verdankt der 64-Jährige in gewisser Weise auch seine Unternehmerkarriere. Es war die Furcht vor einem Angestelltendasein, die ihn 1972 dazu anstachelte, sich selbständig zu machen. Und sich dem Vater zu widersetzen, der ihn in einer Bank unterbringen wollte. Dainese nimmt einen Bildband aus dem Regal und schlägt eine Seite mit Skizzen auf. Sie stammen aus dem Jahr 1971, als er das Markenlogo für seine künftige Firma entworfen hat. Der junge Mann suchte eine Identität. Nicht böse, aber ein wenig aggressiv sollte sie sein, und ehrfurchtslos. So kam er zum Teufelskopf.
Sein erster Entwurf war eine bequeme Hose für Cross-Maschinen, die er für sich selbst anfertigte. Sie entstand noch bei den Eltern. Das Know-how fand der Firmengründer vor der Haustür. In Arzignano, seinem Geburtsort, arbeitet das ganze Dorf mit Leder. Ein Jahr später versetzt Dainese die Motorradwelt auf einer Mailänder Messe ins Staunen. Schwarze Lederkluft beherrschte damals die Szene. Der Italiener brachte Farbspritzer in die monochrome Bikerwelt. Auffallen sollten seine Anzüge. Dahinter stand die Idee, für mehr Sicherheit zu sorgen. Sie wurde das Leitmotiv seines Unternehmens. Dainese arbeitete an der Entwicklung eines integralen Schutzes von Kopf bis Fuß. Er tat sich mit Rennfahrern zusammen, die ihn zu immer neuen Verbesserungen inspirierten. Neben seiner Bürotür hängen die aufgescheuerten Kombis der Motorradrennfahrer Barry Sheene und Valentino Rossi an der weißen Wand.
So entstand die größte Kollektion von Sicherheitsbekleidung. Dainese übernahm 2007 den Helm-Hersteller AGV aus Padua und setzte Karbon ein. Lederanzüge erhielten Titan-Schultern, elastische Einsätze sorgten für Komfort. Höcker machten die Kleidung aerodynamisch, durch Känguru-häute wurde sie leichter und noch robuster. Inzwischen rüstet Dainese auch Mountainbiker, Skifahrer und Reiter aus.
Ein Meilenstein war vor 33 Jahren die Entwicklung eines Rückenschutzes, der bei Motorradunfällen das Risiko von Querschnittslähmungen reduzieren soll. Den innovativen Protektor schaute Dainese der Natur ab. Ein Schalentier war Vorbild, das Modell bekam den Namen Languste. In dieser Saison hatte der Airbag Marktpremiere. "Alle haben zu mir gesagt: Was ihr vorhabt, ist unmöglich", erzählt Entwicklungsmanager Vittorio Cafaggi. Dreimal wurde das Projekt beiseitegelegt. Es ging dann doch. Der TÜV Süd zertifizierte die Zuverlässigkeit nach 800 Tests. Auch den ADAC überzeugte Dainese. "Die Werbung hält einmal, was sie verspricht", lobte Ruprecht Müller vom Autoclub. Testurteil: "sehr gut".
In Frankfurt bewährte sich D-Air bereits auf der Straße. Zubehörhändler Klaus Schrader wurde auf seiner stehenden BMW von einem rückwärts einparkenden Auto angefahren und knallte mit dem Oberkörper auf den Lenker. "Mein D-Air-Street-Airbag hat den Aufprall so extrem stark gemindert, dass ich keine Verletzungen am Brustkorb erlitt", mailte Schrader an Dainese. "Keinen Meter werde ich ohne die Weste fahren".
Noch sind die Airbags so teuer wie die ersten Handys, räumt Lino Dainese ein. Sein Ziel ist es, den Kaufpreis von 1200 Euro in drei Jahren zu halbieren. In fünf Jahren soll D-Air ein Massenprodukt werden. Und der nächste Schritt ist schon in Sicht: die Integration mit dem Motorrad. Auf einmal streiten sich die Motorradhersteller um die Technik - jeder will den Airbag exklusiv. Dainese geht das gegen den Strich: "Ich habe eine demokratische Auffassung von Sicherheit, sie ist für alle da".
Die Antwort Italiens
Um sich herum erlebt der Unternehmer den wirtschaftlichen Niedergang Italiens. Auch Dainese hat im Jahre 2009 den Einbruch durch die Krise gespürt. Der Umsatz fiel um 20 Millionen auf 130 Millionen Euro. Nur noch ein Viertel stammt von Verkäufen in der Heimat. In Italien erledigt das Unternehmen die Entwicklungsarbeit und die Vorserienfertigung. Die Hauptproduktion habe er jedoch 1995 in eigene Fabriken in Nordafrika und der Türkei auslagern müssen, sagt Dainese.
Der Kunstliebhaber konzentriert sich nun auf die Übertragung seiner Innovation auf andere Bereiche. Das Motorrad sei zu einem Altherren-Hobby geworden, bedauert er. Dainese denkt über Airbags für gebrechliche Senioren, Skisportler, Bauarbeiter, Lastwagenfahrer, Astronauten und Soldaten nach. "Die Zukunft Italiens liegt in der Verknüpfung der manuellen Intelligenz mit der Technologie", sagt er und hofft, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen zu können. Es wäre die Antwort auf Italiens größte Angst.