Mary Barra beschönigt nichts: " Schlimme Dinge sind passiert", sagte die GM-Chefin Mitte März in einer Videobotschaft. Jetzt werde sie reinen Tisch machen und die Anstrengungen zur Lösung der Probleme verdoppeln. Die Sicherheit der Kunden nehme man sehr ernst, beteuert die resolute Dame an der Spitze des größten US-Autokonzerns. Immerhin: Barra muss Millionen Autos der Marken Chevrolet, Pontiac und Saturn in die Werkstätten zurückrufen. Es besteht der Verdacht, dass deren Zündschlösser defekt sind.
Neu ist diese Erkenntnis für den Autohersteller offenbar nicht. Laut der amerikanischen Verbraucherschutzorganisation "Center for Auto Safety" wissen die GM-Ingenieure schon seit Langem, dass die Zündschlösser bestimmter Modelle unvermittelt in die "Aus"-Position springen können. Mindestens 303 Menschen hätten in den Jahren 2003 bis 2012 bei Verkehrsunfällen wegen dieses Problems ihr Leben verloren. Die Organisation legt zum Beweis eine Statistik über tödlich verunglückte Insassen der in den USA verkauften GM-Typen Saturn Ion und Chevrolet Cobalt vor. Danach starben allein im Jahre 2012 45 Menschen. GM spricht von zwölf Todesfällen. Deren Angehörige und Freunde bittet Firmenchefin Barra um Verzeihung.
Viele Rückrufe wegen mangelhafter Airbags
Ein fataler Nebeneffekt der Zündschloss-Problematik: Bei ausgestellter Zündung funktionieren auch die Airbags nicht mehr - mit oft tödlichen Folgen. Die lebensrettenden Luftsäcke bereiten nicht nur GM, sondern auch anderen Herstellern Probleme. Viele Marken mussten bereits Mängel eingestehen und deshalb Autos in die Werkstätten zurückrufen. Im Frühjahr letzten Jahres betraf es zum Beispiel rund 3,4 Millionen Modelle von Toyota, Honda und Nissan, im Mai 2013 musste BMW 220 000 Fahrzeuge überprüfen und selbst Airbag-Pionier Mercedes hatte solche Probleme in seiner neuen A-Klasse.
Doch abgesehen von diesen Rückrufaktionen, bei denen in aller Regel "Produktionsfehler" behoben wurden, hat der Airbag in den Augen mancher Fachleute ein prinzipielles Problem. Ein ganz so perfekter und wichtiger Lebensretter, wie er oft beschrieben wird, ist der Luftsack demzufolge nicht. Die Kritik gilt vor allem der Zuverlässigkeit des Airbags. Eine US-Statistik, das "Fatality Analysis Reporting System" (FARS), berichtet, dass die Airbags bei 18 Prozent aller in den Jahren von 1996 bis 2004 erfassten tödlichen Unfälle versagt hatten.
Die Sensoren sind das Problem
In Deutschland gab es bisher nur Stichproben, doch immerhin fanden Experten im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) unter 690 analysierten Pkw-Kollisionen 90 "Problemfälle" (13 Prozent). Als Ursachen für das Airbagversagen hatte man fehlerhafte Kabel und Steckverbindungen, aber auch Probleme mit den Crashsensoren entdeckt.
Diese Messfühler befinden sich im unteren Bereich des Karosserievorbaus oder auf dem Mitteltunnel und registrieren beim Aufprall die Verzögerung des Autos. Von ihren Daten hängt es ab, ob Airbags auslösen oder nicht. Nur: Manche Unfälle werden von den Sensoren gar nicht erfasst. Etwa wenn der Fahrer vor dem Unfall stark bremst, das Auto dadurch vorne eintaucht und anschließend unter einen Lastwagen oder Anhänger rutscht. Bei solchen "Unterfahrungskollisionen" zünden die Airbags oft nicht, weil der Aufprall oberhalb der Sensoren erfolgt. Das kann auch bei der Kollision mit einer Leitplanke passieren.
"Die Sensortechnik muss weiter verfeinert werden"
Nach einem 40 km/h-Crashtest, bei dem der typische Zusammenstoß mit dem Heck eines Lastwagens simuliert wurde, hatte die Bundesanstalt für Straßenwesen festgestellt: "Die Fahrzeugdeformation war erheblich, da das Hindernis circa 60 Zentimeter in den Fahrzeugvorbau eindrang, und das Airbag-System löste den Airbag nicht aus." Deshalb fordern die BASt-Forscher schon seit Jahren, dass "die Sensortechnik weiter verfeinert werden muss".
Doch viel hat sich daran bis heute nicht geändert. "Die Airbag-Auslösung wird bestimmt von der Kraftverteilung, dem Kollisionswinkel, den Verformungseigenschaften des Fahrzeugs und der Beschaffenheit des Gegenstands, mit dem das Auto kollidiert", versucht ein Mercedes-Sprecher das Problem zu erklären: "Das Fahrzeug kann nach dem Unfall erhebliche Deformationen aufweisen, ohne dass ein Airbag auslösen musste, weil beim Unfall nur weiche Strukturen getroffen wurden. Das gilt beispielsweise auch für sogenannte Unterfahrungsunfälle."
Dass die Airbags bei Kollisionen nicht zünden, liegt nach Ansicht vieler Fachleute auch an den Crashtestvorschriften. Sie bestimmen Geschwindigkeit und Aufprallwinkel der Autos, doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus als bei den Laborversuchen. Prallt das Auto in einem flacheren Winkel und mit geringerer Geschwindigkeit als beim Norm-Crashtest vorgeschrieben gegen ein Hindernis, löst der Frontairbag unter Umständen nicht aus.
Nur langsam setzt sich eine intelligentere Airbagsensorik durch, wie sie beispielsweise Autozulieferer Continental entwickelt hat: Durch das "Impact Sound Sensing" soll der Unfall quasi "gehört" werden. Die Sensoren funktionieren wie ein Seismograf, mit dem die Stärke eines Erdbebens gemessen wird: Sobald sich die Karosserie beim Unfall verformt, werden Körperschallwellen übertragen, die von den Messfühlern registriert werden. Je intensiver die Schallwellen, desto schwerer der Unfall. Durch das Verfahren soll der Crash nicht nur besser, sondern auch bis zu 15 Millisekunden früher als bei herkömmlichen Sensorsystemen erkannt werden.
Airbags als Verletzungsursache
Noch besser wäre freilich ein Frühwarnsystem aus Radar- und Lasersensoren, das den Crash schon im Voraus erkennt und berechnet, an welcher Stelle und mit welcher Geschwindigkeit der Aufprall erfolgen wird. Eine solche Technik haben Forscher der Universität Graz für Daimler entwickelt. Ob und wann sie in Serie gehen wird, will man nicht verraten. Doch die Vorteile einer solchen Sensorik sind groß: Dadurch habe man mehr Zeit, um bei der Airbag-Auslösung ganz auf Nummer sicher zu gehen, erklären die Wissenschaftler. Und: Die Luftsäcke können schon vor dem Aufprall zünden und sich "sanft" entfalten.
Pannenserie bei General Motors:Tödliche Fehlzündung
Millionen Rückrufe, langes Schweigen - und womöglich Hunderte Tote: General-Motors-Chefin Mary Barra muss vor dem US-Kongress erklären, seit wann sie von den gefährlichen Defekten ihrer Autos wusste. Der Konzern schickt vor der Anhörung nochmals 1,3 Millionen Fahrzeuge in die Werkstätten zurück. Ein Überblick.
Damit sprechen die Sicherheitsexperten ein anderes gravierendes Airbag-Problem an. Denn die Erfindung, die Insassen eigentlich schützen soll, gilt selbst als Verursacher schlimmer Verletzungen. Von solchen Nebenwirkungen berichten die Unfallforscher der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sie beobachten, dass der Airbag zwar die Schwere und die Häufigkeit von Kopfverletzungen verringert, doch dieser positive Effekt dürfe nicht über Risiken für andere Körperregionen hinwegtäuschen. "Umgekehrt nämlich sind Brustverletzungen nach Auslösen eines Airbags häufiger und schwerer", stellen die Unfallforscher fest und urteilen, die Wirksamkeit der Luftsäcke sei "noch nicht abschließend wissenschaftlich geklärt".
"Verletzungen, die nicht zu akzeptieren sind"
Bei Aufprallgeschwindigkeiten unter 25 km/h macht der Airbag nach Feststellungen des Allianz Zentrums für Technik (AZT) gar keinen Sinn. "Neben unnötigen Kosten für die Instandsetzung muss mit Verletzungen durch den Airbag gerechnet werden, die nicht zu akzeptieren sind, wenn der Insasse ohne Airbagauslösung völlig unverletzt ausgestiegen wäre", heißt es in einem AZT-Bericht.
Tödliche Pannenserie bei GM:Der verstörende Dollar
General Motors soll sich aus Kostengründen gegen einen Austausch der fehlerhaften Zündung entschieden haben. Bei der Kongressanhörung von Konzernchefin Mary Barra wurde bekannt: Womöglich hätte ein Dollar mehr pro Auto die tödliche Pannenserie verhindern können.
Noch konkreter wird Unfallarzt Mark Chong vom Universitätskrankenhaus in North Durham (Großbritannien). Er hatte 450 Unfallopfer untersucht. "Mehr als ein Fünftel der Unterarmbrüche waren direkt auf die Auslösung des Airbags zurückzuführen", berichtet Chong in der Medical Tribune. Schuld daran habe die Wucht, mit der sich die Luftsäcke entfalten. "Eine Weiterentwicklung ist dringend nötig", fordert Chong. "Das Ziel müssen Systeme mit abgeschwächter Dynamik sein, die sowohl Leben retten als auch vor Verletzungen der oberen Extremitäten schützen."
Dabei gibt es diese Technik schon seit Jahren: Adaptive Airbags passen sich der Unfallschwere an, zünden in zwei Stufen und fangen die Insassen dadurch weicher auf. Nur: Die wenigsten Autohersteller bauen sie in ihre Autos ein. Derzeit sind lediglich die Neuwagen von Volvo, Porsche, Lexus und Mercedes durchgängig mit zweistufigen Frontairbags ausgerüstet. Audi stattet nur die Modelle ab A4 damit aus, während BMW die "intelligenten ID-Airbags" zwar in der Werbung ausführlich beschreibt, sie aber de facto in Deutschland nur in die Modelle X1 und Z4 einbaut. VW, Ford, Mazda, Nissan, Seat und Škoda bieten die "sanften" Luftsäcke ihren deutschen Kunden ebenfalls nicht an.