Mercedes K-55:Studie vom anderen Stern

Mercedes K-55

Kein Scherz: Mit dem K-55 wollte Béla Barényi Mitte der Fünfzigerjahre Funktionalität und Sicherheit von Kleinwagen revolutionieren. Über den Prototyp kam die Studie nie hinaus.

(Foto: Daimler AG)

Wahnsinn oder sinnvolle Vision? Vor 60 Jahren baute Mercedes das "Alltagsauto von morgen". Leider nur als Prototyp - weil dem Daimler-Vorstand Design wichtiger war als Sicherheit.

Von Christof Vieweg

Er gilt als einer der größten Vordenker der Pkw-Sicherheit: Béla Barényi erfand unter anderem das Sicherheitslenkrad (1947), die Knautschzone (1953), den versenkten Scheibenwischer (1953) und die zweigeteilte Sicherheitslenksäule (1963). Insgesamt meldete das Technikgenie aus Hirtenberg bei Wien über 2500 Patente an. Doch die Entwicklung eines kompletten Autos blieb ihm verwehrt.

Das wurmt den ehrgeizigen Erfinder, sodass er sich im Frühsommer 1955 in sein Arbeitszimmer zurückzieht und ein Auto entwirft, das die Welt bis dato noch nicht gesehen hatte. "K-55" nennt er das Projekt. "K" steht für Kompaktwagen, denn Barényi war schon damals der Meinung, dass es "absurd" sei, "größere Fahrzeuge zu bauen, die viel zu viel verbrauchen".

Das sehen seine Chefs in der Direktion von Daimler-Benz zwar ganz anders, trotzdem lassen sie ihn gewähren - Barényi hätte sich ohnehin nicht von seinem Plan abbringen lassen. So entsteht ein Auto, das nicht unbedingt schön ist, dafür aber viele andere Qualitäten bietet. "Verkehrsgerecht, sicher, wirtschaftlich" beschreibt der Vorentwickler die Eigenschaften seines K-55 und spricht von einem "ausgewogenen Alltagsauto".

Mit dem Prinzip der Symmetrie

Um mit seinem "wirklich vernünftigen Auto" ein Höchstmaß an Funktionalität, Variabilität und Wirtschaftlichkeit zu erzielen, setzt der Mercedes-Ingenieur auf das Prinzip der Symmetrie: Front- und Heckpartie sind gleich groß und einheitlich geformt, sodass man sie gegeneinander austauschen kann. Dadurch will Barényi dem Autokäufer die Wahl zwischen Front- oder Heckantrieb bieten. Überdies erfindet er ein spezielles "Hebezeug", mit dem sich das Motormodul jederzeit "im Schnelldienst" ausbauen und auswechseln lässt. So soll der Autobesitzer auch noch nach dem Kauf vom Benzin- auf Dieselantrieb umsteigen können.

Lenkrad, Cockpit und Pedale entsprechen ebenfalls dem Prinzip kostengünstiger Variabilität: Sie lassen sich mit wenigen Handgriffen von der linken auf die rechte Seite verschieben und machen damit eine spezielle Exportversion des Autos für Länder mit Linksverkehr überflüssig. Später konstruiert Barényi ein Karosseriemodell, bei dem der Autofahrer in der Mitte sitzt. Dort sei er beim Unfall am besten geschützt, begründet er diese ungewöhnliche Platzierung von Lenkrad und Instrumententafel.

So sicher wie ein großes Auto

Mit Knautschzonen an Front- und Heckpartie, Seitenaufprallschutz, Sicherheitslenkung, "Verschwindscheibenwischer", hochgesetzten Bremsleuchten und Warnblinker ist der K-55 auf dem Gebiet der Insassen- und des Fußgängerschutzes seiner Zeit weit voraus. Solche Sicherheitsmaßnahmen gibt es 1955 noch in keinem Serienauto, geschweige denn in einem Kleinwagen. Barényi will beweisen, dass ein kleines, erschwingliches Auto so sicher wie ein großes sein kann.

Das Prinzip der Symmetrie verwirklicht der Erfinder auch für Motorhaube, Heckdeckel und die Verkleidungsteile der Karosserie. Sie sind jeweils baugleich geformt, sodass in der Produktion die gleichen Blechteile verwendet werden können. Das soll die Kosten senken. Und weil Barényi mit seinem K-55 möglichst wenig Verkehrsraum beanspruchen will, entwickelt er für jede Fahrzeugseite eine 1,70 Meter breite Schiebetür, die auch in engen Parklücken ein bequemes Ein- und Aussteigen ermöglicht.

Nicht größer als ein VW Käfer

Béla Barényi 1959 vor dem Modell im 1:1-Maßstab des Mercedes K-55

Konstrukteur Béla Barényi 1959 vor dem Modell des K-55 im 1:1-Maßstab.

(Foto: Daimler AG)

Überhaupt dreht sich bei diesem ungewöhnlichen Mercedes-Prototyp alles um den sogenannten "Raumwirkungsgrad" - um die "optimale Ausnützung der Verkehrsfläche". Zwar ist der K-55 in den Außenabmessungen nicht größer als ein VW Käfer, doch im Innenraum bietet er den vier Passagieren die Platzverhältnisse einer Mercedes-Limousine.

Mehr noch: Weil Béla Barényi praktisch denkt, bezieht er auch das Dach in seine Überlegungen ein und macht daraus eine Nutzfläche, die im Gegensatz zu herkömmlichen Dachkonstruktionen hochbelastbar ist. So dient das Plattformdach nicht nur zur Unterbringung von zusätzlichem Gepäck, es eignet sich auch für die Aufstellung eines Campingzelts oder als Hochstand. An der Innenseite des Dachrahmens bringt der Konstrukteur Schalter, Instrumente, Leseleuchten und sogenannte "Luftduschen", also Luftauslässe unter.

Die Technik ist ihrer Zeit voraus

Gut zwei Jahre arbeitet Béla Barényi an der Konzeption seines "Alltagsautos von morgen", lässt Skizzen, Konstruktionspläne und Holzmodelle anfertigen, um seine Ideen in der Mercedes-Entwicklungsabteilung präsentieren zu können. Dann wird es Zeit, das ungewöhnliche Auto in Form zu bringen. Dabei hilft der damals 24-jährige Designer Paul Bracq, der 1957 eine Stelle im Stilistikbereich von Daimler-Benz bekommen hatte und dort eine Design-Vorentwicklung aufbauen soll.

Tagelang diskutieren Bracq und Barényi, wie der K-55 aussehen soll, bis der Designer schließlich spontan zum Kugelschreiber greift und die Form des Autos skizziert, wie er sie sich vorstellt: kantig und ohne jeden überflüssigen Schnörkel. Zuerst deutet er noch zwei dezente Heckflossen an, die damals in sind. Doch dann muss er einsehen, dass sich dieses Beiwerk nicht mit Barényis Prinzip der Symmetrie vereinbaren lässt. So bleibt es bei einer sachlichen, überaus zweckbetonten Form mit schmalen Dachsäulen, großen Fensterflächen und dem ungewöhnlichen Dach, dessen Ränder Paul Bracq bewusst betont.

Heute stünden die Chancen besser

Mit dem typischem Mercedes-Design haben diese Entwürfe freilich nichts gemeinsam. Doch das hindert die Chefentwickler offenbar nicht, ihren Vorentwicklern grünes Licht für die Herstellung eines Karosserie-Prototypen zu geben. Diese Studie steht schließlich Anfang 1958 auf den Rädern und wird heftig diskutiert. Jetzt melden sich Barényis Kollegen zu Wort und machen zahlreiche Verbesserungsvorschläge für die Form von Motorhaube, Heckdeckel und Scheiben, die der K-55-Entwickler jedoch allesamt abwimmelt und schließlich durchsetzt, dass Daimler-Benz sein ungewöhnliches Fahrzeugkonzept im April 1958 zum Patent anmeldet. Als "Kraftwagen mit pontonförmigem Aufbau" geht dieser Ideenträger in die Analen ein.

Vier Jahre später wird das gewünschte Patent erteilt, doch mehr hat Barényi in dieser Zeit nicht erreicht. Seine zahlreichen Appelle an den Vorstand, das Auto endlich in Serie zu produzieren, bleiben unbeantwortet. Anfang 1964 wagt das Team Barényi/Bracq einen neuen Vorstoß und legt Skizzen für ein verbessertes Karosseriedesign vor, die Barényis Chef Karl Wilfert nur mit einem Wort kommentiert: "Erschütternd".

Damit endet im März 1964 die Entwicklung eines der ungewöhnlichsten Konzeptfahrzeuge, der jemals bei Daimler in Sindelfingen entwickelt wurde. Kein Zweifel: Mit dem Alltagsauto war Béla Barényi seiner Zeit voraus - wahrscheinlich zu weit. Heute hätte er mit vielen K-55-Ideen womöglich weitaus bessere Chancen.

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